Russlands junge Protestkultur
n-ost: Herr Gabowitsch, Ihr Buch heißt nach einem Protestslogan „Putin kaputt!?“– wie lautet Ihre Antwort?
Mischa Gabowitsch: Es geht nicht um Putin als Person, sondern um ein politisches System. Das System ist nicht kaputt, aber erscheint heute kaum noch jemandem unkaputtbar. Man konzentriert sich in Russland zu oft darauf, wer an die Macht kommt. In einem System, in dem die Gesellschaft die Politik nicht kontrollieren kann, ist das aber relativ egal. Da hat jeder Machthaber das Potenzial, sich zu einem autoritären Herrscher zu wandeln.
Wo ist die russische Protestbewegung heute?
Gabowitsch: Es gibt noch immer Großdemonstrationen. Wahlbeobachtung ist jetzt eine Art Volkssport. Die Leute fahren dafür auch in entlegenere Regionen und stellen Informationen ins Internet. Zudem gibt es Mahnwachen vor Gerichten, Kunstaktionen und etwa im Gebiet um Woronesch eine Bewegung gegen den Nickelabbau. Immer mehr Leute suchen Stellen im System, an denen es knirscht.
Mischa Gabowitsch, geboren 1977 in Moskau, ist Zeithistoriker und Soziologe. Er studierte in Oxford und Paris und promovierte an der Pariser Ecole des hautes études en sciences sociales (Hochschule für Sozialwissenschaften, EHESS). Er hat an der Princeton University unterrichtet und ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum in Potsdam.
Die Geiseldramen im Moskauer Musical „Nord-Ost“ oder in einer Schule von Beslan endeten mit vielen Toten, lösten aber keine landesweiten Proteste aus. Warum motivierten Wahlfälschungen so viele Menschen, in klirrender Kälte zu demonstrieren?
Gabowitsch: Zuvor beschränkten sich Proteste auf bestimmte Sektoren, Gegenden oder Netzwerke von Freunden. Zur Geiselnahme in Beslan fordern Menschen aus Nordossetien Ermittlungen, organisieren sich aber über familiäre Netzwerke. Bei der „Schneerevolution“ kamen erstmals Menschen zusammen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten. Für die Initialzündung sorgten die Wahlbeobachter.
Warum wurden Wahlbeobachter nicht schon früher Schlüsselfiguren einer Protestbewegung?
Gabowitsch: Schon länger vor den Protesten gab es Organisationen von Wahlbeobachtern. Sie arbeiteten aber zunächst mit Vertretern von Parteien zusammen, die kein Interesse daran haben, das System zu verändern. Es hat Jahre gedauert, bis die Vereinigungen anfingen, Freiwillige zu schulen – ein wichtiger Lernprozess. Viele wurden erst durch ihre Erfahrungen in den Wahllokalen politisiert. Sie stellten Videos von Fälschungen ins Netz, die wiederum andere Menschen auf die Straße trieben. Es war wie eine Lawine.
Inwiefern ist das neue „Agentengesetz“ eine Panik-Reaktion des Regimes auf den „Volkssport Wahlbeobachtung“?
Gabowitsch: Das Gesetz ist eine Reaktion auf den Protest, verfehlt aber seinen Zweck. Denn es trifft Bürgerrechtsorganisationen, die nicht politisch aktiv sind. Die freiwilligen Beobachter wird es kaum beeinflussen, da diese, wenn überhaupt, nur als loses Netzwerk organisiert sind.
Wird dieses Gesetz die Protestkultur beflügeln oder versiegen lassen?
Gabowitsch: Eine Protestkultur gibt es immer, sie kann sich aber wandeln. Die repressiven Maßnahmen und Gesetze von 2012 werden viele Aktivisten von der Straße oder sogar in die Emigration zwingen. Vor allem verhärten sie die Fronten, was einige Protestierende langfristig radikalisieren kann.
In Ihrem Buch schreiben Sie, viele Teilnehmer der Protestdemos wussten gar nicht, wofür sie konkret auf die Straße gingen.
Gabowitsch: Zunächst einmal: Ich würde nicht in der Vergangenheitsform darüber sprechen. Das Problem besteht weiter. Je konkreter das Ziel ist oder die Aktion, für die man sich zusammenfindet, desto einfacher kann man taktisch planen. Sobald es aber um globale Fragen geht, ist es schwer. Noch weiß man nicht, was zu tun ist, aber zumindest ist man mit diesem Unwissen nicht alleine.
Das erinnert an die Occupy-Bewegung in den USA.
Gabowitsch: In der Bewegungsforschung spricht man heute von „neuen neuen sozialen Bewegungen“. Hier kommt es nicht in erster Linie auf ein deklariertes Ziel an, sondern darauf, zusammen zu sein. Das sieht man in Russland, New York oder Israel. Man besetzt einen öffentlichen Raum, protestiert und geht wieder auseinander. Viele hoffen, dass sich die Gesellschaft durch die ständige Erneuerung dieser internen Kommunikation verändert. Es ist ein langwieriger, aber aussichtsreicherer Prozess als diese primitive Idee: Wir gehen jetzt ins Stadtzentrum und stürzen das Regime.