Russland

Putin kaputt!?

Am Montag, dem 7. Mai 2012, sollte Wladimir Putin zum dritten Mal als Präsident der Russländischen Föderation vereidigt werden. Die Wahlen, denen er die Rückkehr in dieses Amt nach vier Jahren als Premierminister verdankte, waren unter unfairen Bedingungen und mit massiven Fälschungen verlaufen. Für den Vortag seiner Amtseinführung hatten Aktivisten der außerparlamentarischen Opposition in Moskau eine Demonstration angemeldet, die Putin die Legitimität als Präsident absprechen sollte. Die Stadtverwaltung hatte den Bolotnaja-Platz als Veranstaltungsort genehmigt. 

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Die Demonstration trug den auch innerhalb der Protestbewegung den umstrittenen und von vielen belächelten Titel »Marsch der Millionen«. Angelehnt war diese Bezeichnung an einen gleichnamigen Aufmarsch in Kairo vom 1. Februar 2011 im Zuge der Revolution gegen Hosni Mubarak. Es war das erste Mal seit Beginn der Bewegung für faire Wahlen im Dezember 2011, dass Bürger aus dem ganzen Land ermuntert wurden, nach Moskau zu kommen, statt Parallelveranstaltungen in ihrer Stadt durchzuführen. Die Teilnehmer kamen mit Zügen, in Fahrgemeinschaften, mit Linienbussen, per Flug oder per Anhalter nach Moskau, einige von ihnen aus weit entfernten Landesteilen, sogar aus dem über 6000 Kilometer entfernten Petropawlowsk-Kamtschatskij nordöstlich von Japan. Wichtigstes Kommunikationsmittel war das Internet-Netzwerk vkontakte – ein Facebook-Klon, dessen Reichweite in der russischsprachigen Welt größer ist als die des Originals.

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Die Protestgesellschaft

Der Großteil der Teilnehmer, die sich ab dem Vormittag außerhalb der Metrostation Oktjabrskaja versammelten, fühlte sich keiner der politischen Gruppierungen zugehörig, die die Veranstalter repräsentierten. Die Demonstranten identifizierten sich mit Hilfe von Bannern, Flaggen, Plakaten, Buttons, Luftballons, Flugblättern und Kostümen als Einwohner bestimmter Städte, als Umweltschützer, Menschenrechtler, Homo-Aktivisten, So- zialprotestler, Studenten, Rocker, Anarchisten, Kommunisten, Christen, Abstinenzler, NATO- oder WTO-Gegner und Mitglieder einer breiten Palette von zumeist kleinen Bündnissen und politischen Parteien. Wie bei vorangegangenen und späteren Aktionen waren auch Ultranationalisten mit schwarz-gold-weißen Trikoloren dabei; etwa hundert Personen von der Kleinstpartei »Großrussland« tauchten vor Beginn des Marsches kurz auf, riefen antiliberale Parolen und verließen die Veranstaltung wieder.

Die meisten Teilnehmer jedoch verzichteten auf eine Kennzeichnung oder trugen nur das weiße Bändchen, das seit Dezember als Symbol der Bewegung für faire Wahlen galt, einige auch das schwarz-orange Sankt-Georgs-Band zum Tag des Sieges. Auch die Plakate waren meist mit individuell formulierten Botschaften beschriftet. Viele ältere Menschen und einige Kinder waren zu sehen, auch behinderte Protestteilnehmer in Rollstühlen waren gekommen. Dutzende, wenn nicht Hunderte in- und ausländische Journalisten mit professioneller Ausrüstung hatten sich frühzeitig in Position gebracht; den Tausenden Graswurzelreportern und Bloggern genügten Digitalkameras und Mobiltelefone. Viele posteten bereits während des Marsches Bilder auf Facebook, vkontakte und Twitter oder boten Live-Übertragungen auf UStream an. Schon auf dem U-Bahnsteig standen Sozialforscher, die versuchten, im Strom der Ankommenden die Gewichtung von Einzeldemonstranten und Gruppen zu bestimmen. In der Menge und an den Straßenrändern waren professionelle Ethnologen, Politikwissenschaftler und Soziologen sowie interessierte Laien unterwegs, die beobachteten, fotografierten, zählten, verglichen, notierten, befragten und interviewten, darunter der Autor dieses Buchs. Mehrere hundert Polizisten in der Kampfausrüstung der OMON-Sondereinsatztruppen begleiteten den Zug; etliche von ihnen waren in geschlossenen Reihen auf der Insel stationiert, hinter ihnen Soldaten der Inneren Streitkräfte mit Panzerwagen. Männer in Zivil gaben den Polizisten Anweisungen, und auch am Anfang und am Ende der Marschroute standen einige von ihnen bereit. Manche Polizisten waren ebenfalls mit Fotoapparaten oder kleinen Handycams ausgerüstet. Über der Menge kreiste ein Hubschrauber.


Zusammenstöße und Provokationen

Nach einem anfänglichen Regenschauer war das Wetter mit über 20 Grad und strahlendem Himmel nahezu sommerlich. Während sich der Umzug durch eine Batterie von Metalldetektoren zwängte und sich dann fast zwei Kilometer die Jakimanka-Straße hinunter bis zum Bolotnaja-Platz bewegte, herrschte die friedliche, ja freundschaftliche Stimmung, die bereits im Winter zum Kennzeichen der Protestbewegung geworden war. Kleinere Provokationen konnten die Stimmung nicht trüben: So hatten Unbekannte einer Gruppe betrunkener Obdachloser Geld angeboten, um am Versammlungspunkt des Umzugs vor laufenden Kameras zu grölen; sie wurden jedoch kaum beachtet. Der »Marsch« glich eher einem riesigen Frühlingsspaziergang. Einzelne Gruppen skandierten immer wieder Parolen. Beliebt waren die Sprechchöre »Gauner und Diebe packt eure Sachen, ihr habt fünf Minuten!« und Wir sind hier die Macht«, die auf bekannte Zitate des nationalliberalen Antikorruptionsbloggers Alexej Nawalnyj anspielten. »Russe sein heißt nüchtern sein!« rief ein Block von Nationalisten. »Freiheit für Pussy Riot!« tönte es aus der benachbarten Kolonne der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans (LGBT). Die meisten Teilnehmer jedoch unterhielten sich miteinander oder knüpften neue Bekanntschaften.

Um sich auszuruhen oder ihren Durst zu stillen, setzten sich einige unterwegs an die im Freien stehenden Tische eines Cafés der Coffee House-Kette, kehrten im Irish Pub ein oder kauften Getränke im »ABC des Geschmacks«. Nach über einer Stunde ließ die Polizei, die auf den Marsch mitgebrachte Glasbehälter konfisziert hatte, auch hier die Regale mit Glasflaschen verdecken. Nicht die Abschlusskundgebung, sondern der Marsch und die Möglichkeit des Austauschs in der Menge waren für die meisten das eigentliche Ziel: Schon bei den Protestkundgebungen im Dezember hatte nur eine kleine Zahl der Anwesenden dem, was auf der Bühne passierte, Beachtung geschenkt. So verließen einige Teilnehmer den Marsch denn auch noch vor der Brücke über den Wasserumleitungskanal.

Etwa zwei Stunden nach dem Beginn des Umzugs, kurz nach 17 Uhr, entstand an dieser Brücke ein Flaschenhals. Während auf der Bühne schon die ersten Redner und Musiker auftraten, hatten Einsatzkräfte entgegen den veröffentlichten Vereinbarungen mit den Organisatoren den größten Teil des Bolotnaja-Platzes abgeriegelt und versuchten nun, die Demonstranten auf einen engen Uferstreifen zu lenken. Eine Gruppe bekannter Aktivisten, darunter Alexej Nawalnyj, Sergej Udalzow von der »Linken Front« und der liberale Politiker Ilja Jaschin, reagierten mit einem Sitzstreik vor den Polizeikolonnen, der wiederum die An- kommenden am Weitergehen hinderte. Einige versuchten, die Reihen der Uniformierten zu durchbrechen. Der OMON verhinderte dies nicht nur, sondern drängte die Demonstranten mit Gewalt zurück. Es begannen Zusammenstöße. In den vordersten Reihen waren einzelne Aktivisten und Rauflustige dabei, die es von vornherein auf gewalttätige Konfrontation mit der Polizei abgesehen hatten. Allerdings sind auf Foto- und Videoaufnahmen auch Mitglieder kremlnaher Jugendgruppen zu sehen, die vermutlich zumindest einige der Zusammenstöße angeheizt oder zur Eskalation gebracht haben. Nach den ersten Handgreiflichkeiten kam es zu Verhaftungen von Protestierenden, die Plastikflaschen und andere Gegenstände auf die Polizisten warfen. Aber auch etliche friedliche Demonstranten wurden festgenommen.

Interview mit Mischa Gabowitsch


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