Russland

Der Don Quichote von St. Petersburg

In Krasnoje Selo reihen sich die typischen fünfstöckigen Plattenbauten aus der Chruschtschow-Zeit aneinander. Die Einwohner der nahen 5-Millionen-Metropole St. Petersburg bezeichnen die Siedlung herablassend als „Arbeiter-Vorort“. Dabei hat der 20.000-Einwohner-Vorort etwas, das St. Petersburg nicht hat: Am Horizont ragt neben einigen Baukränen ein langes, hohes Gestell mit einer Art Propeller an der Spitze hervor – ein Windrad.

„Solche Initiativen kommen immer von verrückten Menschen“, sagt Alexander Entel. Der ältere Herr sitzt in einem weißen Strickpulli und dunkelgrauen Anzug in seinem Büro in einem Verwaltungsgebäude von Krasnoje. Entel hat vor zehn Jahren das Windrad installiert. Er ist bis heute ein Einzelkämpfer. „Kein Gesetz fördert erneuerbare Energien in Russland ausreichend. Die Verwaltung freut sich über die Einkommen aus dem teureren Erdöl und kümmert sich nicht um alternative Energiequellen“, schimpft Entel.

Subventionen gibt es nicht

Schon 2007 hat die russische Regierung ein Gesetz erlassen, nach dem erneuerbare Energie unterstützt werden sollen. Dieses legt unter anderem fest, dass kleine Anlagen für regenerative Energien Netzzugang erhalten sollen. Doch ein Gesetz alleine reicht nicht – es fehlen Angaben für konkrete Maßnahmen und Ziele. So haben kleine Produzenten erneuerbarer Energie in Russland oft keinen Zugang zum Stromnetz, auch, weil es bis heute keine konkreten Pläne für einen Einspeisetarif gibt. Nach Angaben der Marktforschungsagentur Cleandex beträgt der Anteil erneuerbarer Energien an der russischen Stromversorgung weniger als 1 Prozent. Die offizielle Energiestrategie sieht vor, den Anteil bis 2020 auf immerhin 4,5 Prozent zu erhöhen. Allerdings erhalten alternative Energien keinerlei staatliche Subventionen – im Gegensatz zu Atomkraft und Kohle. Deswegen kommt das Interesse am Markt für erneuerbare Energien wenn überhaupt von den Unternehmen selbst.

Alexander Entel kennt sich aus auf dem Energiemarkt. Er hat selbst mehr als 20 Jahre lang als Ingenieur Atom-U-Boote in St. Petersburg gebaut. 1973 bekam er bei einem Experiment starke Strahlung ab. Es war nicht sofort klar, was das bedeutete: Erst zehn Jahre später litt er unter starken Kopfschmerzen. Die Ärzte stellten einen Hirntumor fest. Drei Operationen musste er über sich ergehen lassen, darunter auch eine Trepanation – eine Öffnung des Schädels. Die Einschnittstelle auf seiner Stirn ist heute noch sichtbar.

 „Im Reaktorraum erschauerte ich vor Erregung“

„Wir waren damals junge Romantiker, begeistert von Kernkrafttechnologien“, erzählt er heute. „Wenn ich in den Reaktorraum musste, fühlte ich mich wie vor einer Frau, ich erschauerte vor Erregung.“ So leidenschaftlich ist sein Verhältnis zu den erneuerbaren Energien nicht. Sein Interesse an der Windkraft beschreibt der Physiker als „romantische Leidenschaft“. Doch er interessiert sich auch als Geschäftsmann dafür. Die wilden 90er und die fetten 2000er haben Entel zu einem geschickten russischen „Bisnesmen“, einem Geschäftsmann westlichen Typs, gemacht. Alexander Entel besitzt nicht nur Anteile am örtlichen Markt, sondern ihm gehören auch eine Baumaterialproduktion, eine Kette von Schönheitssalons, und ein paar kleinere Geschäfte in Krasnoje Selo. Er hat sogar mit eigenen Materialien eine kleine orthodoxe Kirche errichtet.

Das Windrad kaufte er 1999 für ungefähr 20.000 Dollar in Deutschland und installierte es in seiner Firma für Baumaterial. Der Strom, der so entsteht, fließt direkt in den Betrieb. Das gebrauchte Gerät rentierte sich erst nach acht Jahren. Der Stromüberschuss geht ins öffentliche Stromnetz. Geld bekommt Entel dafür aber keines, sondern er darf bei Engpässen die gleiche Menge an Strom später kostenlos wieder aus dem Netz nehmen. Vor sechs Jahren hat Alexander Entel noch ein zweites Windrad gekauft, diesmal für eine neue Wohnsiedlung in der Nähe von Krasnoje Selo, wo auch er sein Haus hat.

Aus ganz Russland kommen Menschen zu Entel

„Ein bis zwei Windräder, wie ich sie habe, lohnen sich aus wirtschaftlicher Sicht nicht. Es sollte wirklich ein Windpark sein“, sagt Alexander Entel. Deswegen gibt es auch – abgesehen von seinen beiden – im ganzen Bezirk St. Petersburg keine weiteren Windräder, in ganz Russland sind es nur sehr wenige. Die allgemeine Leistung durch Windenergieanlagen liegt in Russland derzeit bei 16,5 Megawatt – das ist 1.500 Mal weniger als in Deutschland.

Entels Ruf zieht Menschen aus ganz Russland nach Krasnoje Selo. Allein im letzten Jahr waren es mehr als 40, die sich mit technischen und wirtschaftlichen Fragen an ihn wandten. Unter ihnen sind viele Bauern, aber auch Aussteiger, die energieunabhängig sein möchten, wenn sie ein Haus fern von jeder Zivilisation bauen. „Wenn die erfahren, wie viele offizielle Zahlungen und Schmiergelder ein Netzwerkzugang bedeutet, dann fangen sie an, etwas anders suchen und schauen sich nach Alternativen um.“ Ein Problem ist auch, dass es um große Städte herum oft nicht genug Stromkapazitäten gibt. Deswegen ist es für ein Unternehmen oder ein Privathaus auf dem Land sehr kompliziert, Zugang zum Netz zu bekommen. Entel rät dann nicht nur zu Windrädern, sondern vor allem auch zu Biomasseanlagen oder Pellet-Produktionen – die sollen wirtschaftlich viel besser funktionieren, auch ohne staatliche Unterstützung.

„Natürlich bin ich in der Partei“

Die Besucher kommen fast im Minutentakt zu Entels Büro. Neben seinem Geschäft ist Alexander Entel als Kommunal-Abgeordneter mit vielen Alltagsproblemen aus seinem Umkreis beschäftigt: angefangen bei neuen Haustüren in den Plattenbauten bis hin zu Computerkursen für alte Menschen unter dem Namen „Babushka-online“. Sein Kollege, der diese Kurse leitet, war zu Sowjetzeiten Sekretär der KP in Krasnoje Selo. Heute sind die beiden Mitglieder einer anderen, ebenfalls wichtigen Partei.

„Natürlich bin ich in der Partei – also, in der Partei ‚Einiges Russland‘. Ohne ihre Unterstützung kann man heute nicht so viel erreichen“, sagt Entel. Vor einigen Jahren hat er zu Journalisten gesagt, er würde trotz dieser Mitgliedschaft sein Kreuzchen für die liberale Oppositionspartei Jabloko machen. In seinem Büro schlägt er den Vorschlag aus, ein Foto mit der Partei-Fahne von „Einiges Russland“ zu machen, die in einer Zimmerecke steht. „Lieber nicht“, sagt er schwankend und erklärt nichts weiter.

Auf dem Schrank steht ein staubiges U-Boot-Modell

„Russland befindet sich auch 20 Jahre nach der Wende immer noch in der Übergangsphase“, meint er. „Es sind meistens der Zugang zu freier Ausbildung und die Meinungsfreiheit, die die Leute verändern – in Russland hat es dies in der Geschichte kaum gegeben. Wenn man sagt, Russland liegt 100 Jahre vor Europa zurück, dann antworte ich immer – nein! 500 Jahre! Und dieser Rückstand ist nicht so einfach zu überwinden. Selbst nicht mit all den Technologien, die wir jetzt haben.“

Doch ganz oben auf dem Schrank steht noch ein staubiges U-Boot-Modell, das er manchmal seinen Gästen zeigt. Und dann bedauert er, dass keines seiner Kinder oder Enkel Physiker geworden ist. Zu Sowjetzeiten gab es sie noch, die Tradition von Wissenschaftler-Generationen. Von Kindern wurde erwartet, in die Fußstapfen der Eltern zu treten. Mit dem Ende der UdSSR war jedoch auch mit dieser Tradition Schluss: Entels Sohn hat ein Fischgeschäft, die beiden Töchter arbeiten im Handel, und der Enkel ist sogar zur Straßenpolizei gegangen. Allerdings hat er kürzlich seinen Job verloren – angeblich weil er kein Schmiergeld nehmen wollte.

Alexander Entel steigt in seinen Geländewagen und fährt zum Windrad. Eins der Rotorblätter ist beschädigt und muss repariert werden.


Weitere Artikel