Bulgarien

Leben im Blinden-Ghetto

Dicht gedrängt kriecht der Verkehr auf der Umgehungsstraße von Sofia. Vorbei an tristen Fassaden von Plattenbauten und an Brachgeländen. Ein kleiner Weg führt ab in ein Industriegebiet. Hier stehen an einem kleinen Platz drei heruntergekommene Wohnblöcke. Im Schatten von Lagerhallen leben dort etwa 500 blinde Menschen – ein Viertel aller Blinden in Sofia. In den 70er Jahren hat die damalige Stadtverwaltung  an dieser Stelle gleich mehrere Heime für Blinde eingerichtet. Träger ist der bulgarische Blindenverband. Die Gegend wirkt wie ausgestorben. Ein Hund schnüffelt im Müll. 



Blinde sind in Bulgarien auf sich allein gestellt. Sie finden kaum Jobs und bekommen nur eine geringe Unterstützung durch den Staat. / Dimiter Muftieff, n-ost

Vor einem Eingang steht Petar Jossifow. Petar ist ein kleiner untersetzter Mann mit dunklen Locken. Er trägt eine Sonnenbrille. Petar ist seit seiner Kindheit blind. Ende der 70er Jahre kam er aus seinem Dorf nach Sofia, um in der Hauptstadt eine Blindenschule zu besuchen. Später fing er in einer der Fabriken des Blindenverbandes an zu arbeiten. Damals unterhielten die Blindenverbände noch Dutzende von Werkstätten und Fabriken, die über das ganze Land verteilt waren. Petar fertigte zusammen mit hunderten anderen blinden Arbeitern direkt hinter den Heimen industrielle Filteranlagen an. „Heute arbeiten in der Fabrik nur noch 10 bis 15 Blinde aus den Wohnheimen“, erzählt er. „Die anderen müssen zusehen, dass sie irgendwie über die Runden kommen. Sie spielen Akkordeon auf der Straße, betteln oder sammeln Altpapier“. Für ein Kilo Altpapier bekommt man in Sofia umgerechnet einen Euro-Cent.

Die Fabrik gehört auch heute noch dem nationalen Blindenverband. Aber inzwischen beschäftigt sie  viele sehende Arbeiter, da sie ansonsten ganz schließen müsste. Der Verband hat für die subventionierten Arbeitsplätze der Blinden nicht mehr genug Geld. Petar ist einer der Glücklichen, die ihren Job in der Fabrik behalten konnten. Er verdient 200 Euro im Monat. Damit gehört er im Blinden-Ghetto, wie es die Bewohner nennen, zu den Großverdienern. Aber auch er lebt in Armut. Sein Zimmer im Heim hat gerade einmal acht Quadratmeter, er teilt sich die Toilette mit einem Nachbarn. Die Zentralheizung in den Blindenheimen wurde vor drei Jahren abgestellt, weil niemand die Rechnungen bezahlte. Auf den Fluren ist es jetzt im Dezember eisig kalt. Die Fenster sind eingeschlagen, der Putz bröckelt von den Wänden. Wer einmal dorthin gezogen ist, schafft es kaum noch, wieder fortzukommen. „Eigentlich wollen alle nur weg von hier“, erzählt Petar. Aber die Blinden haben keine Wahl. Die Wohnungen in Sofia sind teuer. Der Blindenverband hingegen nimmt von den Bewohnern der Heime nur eine symbolische Miete. Petar zahlt umgerechnet rund sechs Euro im Monat. 



In Sofia leben rund 500 Blinde in einem eigenen Bezirk. Ihre Wohnheime, einst vom sozialistischen Staat eingerichtet, sind heruntergekommen. Selbst im Winter gibt es keine Heizung. / Dimiter Muftieff, n-ost


Um die Lebensbedingungen in den Heimen zu verbessern, braucht der Verband Geld. „Zehn Prozent der Sanierungskosten würden reichen, um die Sache anzupacken. Doch nicht einmal so viel können wir berappen“, klagt Assen Altanow. Seit anderthalb Jahren ist er Vorsitzender des Sofioter Blindenverbandes. Als solcher kennt er wie kein anderer die Sorgen und Nöte der Blinden in Sofia. Er ist selbst blind und arbeitet als „Mobilitätstrainer“. Das bedeutet, dass er Blinde anleitet, wie sie sich im Alltag zurechtfinden.

„Allein in Sofia erblinden jährlich etwa 100 Menschen, erzählt er. „Wir müssen sie an die Hand nehmen und sie in ein ganz neues Leben führen. Sie müssen neu lernen zu kochen, sich anzuziehen. Sie müssen die Blindenschrift lernen. Der Staat gibt uns dafür umgerechnet 200.000 Euro im Jahr“, sagt er. Die Hälfte der Subventionen geht an das Rehabilitations-Zentrum für Blinde in Plowdiw. Das ist die einzige spezialisierte Einrichtung für Blinde in Bulgarien. Der Rest bleibt für den Alltag der Blinden. „Doch was sind schon 100.000 Euro im Jahr für 20.000 Blinde im ganzen Land?“, klagt Altanow.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus habe sich die Situation dramatisch verschlechtert, erzählt Altanow. Die meisten Betriebe des Blindenverbandes mussten schließen. Die Arbeiter landeten auf der Straße. Sie seien zu Bettlern geworden, sagt er. Die Sozialleistungen, die es gebe, seien viel zu gering. Umgerechnet 50 bis 100 Euro erhält ein Blinder in Bulgarien im Monat als Unterstützung aus den öffentlichen Kassen. Auf dem Arbeitsmarkt haben die Blinden kaum eine Chance. Assen Altanow kommt sich manchmal selbst vor wie ein Bettler. Jeden Tag spricht er mit Arbeitgebern und versucht sie zu überzeugen, einen Blinden einzustellen. In den vergangenen zwölf Monaten konnte er aber nur 25 Blinde in Jobs vermitteln. „Wenn wir uns gegenseitig nicht helfen, hilft uns niemand“, sagt er. Den Glauben an die Politiker habe er schon lange verloren. „Vor den Wahlen erinnern sie sich an uns. Dann kommen sie und sagen: Ja, die Lage ist schlimm und wir werden euch helfen. Am Tag nach den Wahlen haben sie uns wieder vergessen.“ Vor anderthalb Monaten demonstrierten ein paar hundert behinderte Menschen vor dem Ministerrat in Sofia. Einen Tag lang machten sie ihrer Wut und Verzweiflung Luft. Sie protestierten gegen die Regierung und forderten bessere Lebensbedingungen, mehr Möglichkeiten für Integration und für ein Leben in Würde. Das Fernsehen berichtete. Geändert hat sich seither nichts.


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