"Die Zeiten politischer Zensur in Russland sind vorbei" / Interview mit dem russischen Regisseur Michail Kalatozishvili.
ostpol: „Wildes Feld“ („Dikoje pole“) ist ein sehr ruhiger, bildgewaltiger
Film, der auf der Biennale in Venedig, auf dem russischen Filmfestival in Sotschi und auf dem Cottbuser Filmfestival Preise eingesammelt hat. Sind Sie überrascht?
Kalatozishvili: Der Film wurde auch in Portugal, Marokko und Frankreich ausgezeichnet. Wirklich überrascht hat es mich bei der Biennale in Venedig. Ich hatte nicht erwartet, dass die Jury dort unseren Film überhaupt beachtet, weil er gar nicht im Wettbewerb gelaufen ist. Trotzdem haben wir dort den Art-Cinema-Award bekommen.
Manche Regisseure drehen für Festivals, manche speziell fürs Publikum. Für wen machen Sie Ihre Filme?
Kalatozishvili: Ich mache die Filme weder für Festivals noch für das Publikum, sondern weil ich nicht umhin kann, Filme zu drehen. Trotzdem ist es mir wichtig, dass meine Werke vom Publikum gesehen und auch auf Festivals gezeigt werden.
Sie haben gesagt, dass Sie im Falle von „Wildes Feld“ („Dikoje pole“) einfach die Geschichte eines glücklichen Menschen erzählen wollten – ganz ohne politische Aussage. Bevorzugen Sie unpolitische Filme?
Kalatozishvili: Filme gänzlich von Politik zu „säubern“, ist ziemlich schwer, weil wir alle politisierte Menschen sind. Dennoch bin ich der Meinung, dass Filme nicht übermäßig politisch sein sollten. Ich versuche, Filme nicht über Politik, sondern über Menschen zu drehen. Und die sind immer Teil eines politischen Systems. Deshalb entstehen sowieso unterschwellig auch politische Aussagen.
Sie sind der Enkel des berühmten Regisseurs Michail Kalatozow („Wenn die Kraniche ziehen“), der 1958 die Goldene Palme beim Film-Festival Cannes gewann. Gegenwärtig sind russische Filme auf den bedeutenden internationalen Festivals wie der Berlinale oder in Cannes nicht mehr oft vertreten. Woran liegt das?
Kalatozishvili: Das liegt daran, dass Russland zu Osteuropa gehört und die genannten Festivals in Westeuropa stattfinden (lacht). Aber genau kann ich Ihnen diese Frage nicht beantworten, sondern wohl eher die Festivalleiter. Einige russische Filme bekommen ja auch Preise auf internationalen Festivals wie jüngst Alexej German Jr. für „Papiersoldat“, der in Venedig den Silbernen Löwen für die beste Regie gewonnen hat. Ein Grund dafür, warum so wenige russische Filme auf Festivals zu sehen sind, ist vielleicht, dass wir erst jetzt wieder angefangen haben, viele Filme zu drehen. Diese Menge wird früher oder später auch in Qualität übergehen.
Wollen Ihre Kollegen überhaupt, dass ihre Filme außerhalb des Landes gezeigt werden oder produzieren sie ausschließlich für das einheimische Publikum?
Kalatozishvili: Die meisten osteuropäischen Regisseure haben ein großes Interesse daran, dass ihre Filme im Westen gezeigt werden. Das Problem dabei ist aber die Wirtschaft. Es gibt einen großen geschlossenen ökonomischen Kreis in Europa, in den man das russische Kino nicht hineinlässt. Und der russische Staat versucht auch nicht, das zu ändern. Das heißt, unsere Regierung gibt kein Geld dafür aus, russische Filme im westlichen Ausland zu propagieren. Wenn, dann müssen sich die Werke aus eigener Kraft durchsetzen. Was Filme betrifft, so ist der Austausch zwischen Russland und Westeuropa noch immer wie eine Baustelle, was fehlt, ist die Kontinuität. Schafft es beispielsweise ein Film in die Kinos, dann kommen danach möglicherweise noch ein oder zwei Folgeprojekte auf die Leinwände. Aber dann ist das Projekt auch schon wieder beendet, und neue Baugrundstücke müssen erschlossen werden.
Veranstaltungen wie beispielsweise die jährlich in Berlin stattfindenden Russische Filmwoche versuchen, das Kino Ihrer Heimat in Europa und den USA bekannter zu machen.
Kalatozishvili: Projekte wie die Russische Filmwoche sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sie werben im Westen für den russischen Film, aber das reicht einfach nicht, um dem Publikum die gesamte Bandbreite des russischen Kinos vorzustellen. Was fehlt, sind Folgeschritte. Dazu braucht man Geld und eine gezielte Politik.
Ihr Großvater hatte einige Jahre lang Berufsverbot, seine Filme wurden zensiert oder gar nicht erst gezeigt. Mit welchen Herausforderungen oder Problemen sehen sich junge russische Regisseure heute konfrontiert?
Kalatozishvili: Die Zeiten politischer Zensur in Russland sind heute vorbei. An ihre Stelle ist die Zensur des Marktes getreten. Heute gibt es Menschen, die entscheiden, welche Filme gewinnbringend sind und welche nicht. Danach wird ausgewählt, welche Produktionen ins Kino kommen und welche nicht. Es gibt tatsächlich viele gute russische Filme, die nicht einmal das einheimische Publikum zu sehen bekommt. Wenn es irgendwann wieder vernünftige Verleiher gibt, die sich nicht nur auf Blockbuster konzentrieren, schaffen es bei uns auch normale Filme wieder auf die Leinwand.
Gegenwärtig kommen Werke, die patriotische und nationale Gefühle heraufbeschwören, wie etwa der „Admiral“, beim russischen Publikum sehr gut an. Wie erklären Sie sich das?
Kalatozishvili: Blockbuster wie der „Admiral“ haben einfach ein gigantisches Werbebudget und ziehen deshalb so viele Zuschauer an. Tatsächlich ist es ein ziemlich gefährlicher Zustand, dass man in Russland Filme für Ideologiebildung benutzt. Mit dem Kino selbst hat das aber nur indirekt etwas zu tun. Die Regisseure greifen einfach die oberflächlich vorherrschende Gefühlslage auf und machen daraus Filme. Diese Art von Produktion ist nicht außergewöhnlich – sogar in Hollywood entstehen patriotische Streifen. In Russland aber liegt die Gefahr darin, dass parallel dazu nicht genug andere Filme in die Kinos kommen, die ein Gegengewicht zu diesen ideologiegeladenen Werken bilden könnten. Trotzdem ist mir kein solcher Film bekannt, der sich über einen längeren Zeitraum in der Erinnerung der Zuschauer festgesetzt hätte.
Woher kommt das Geld für diese Filme?
Kalatozishvili: Es gibt bestimmte Investoren, die durch die Finanzierung solcher Projekte bei der Regierung punkten wollen und es auch können. Erst wenn diese privaten Sponsoren irgendwann feststellen sollten, dass sie auch außerhalb der patriotischen Sphäre Gutes für den Staat bewirken können, wird alles besser.
Warum sehen junge Russen lieber Produktionen aus Hollywood als einheimische Filme?
Kalatozishvili: Es ist bedauerlich, aber tatsächlich schauen die junge Leute bei uns am liebsten Blockbuster. Der Grund dafür ist, dass es davon einfach mehr gibt und dafür mehr geworben wird. Außerdem sind die Kinobetreiber williger, solche Streifen ins Programm zu nehmen als einheimische Produktionen. In Russland hat man aus irgendeinem Grund beschlossen, sich am Modell Hollywood zu orientieren. Dadurch geht der Bezug zum tatsächlichen Leben der Russen immer mehr verloren. Momentan gibt es aber eine neue Tendenz, wieder zum normalen Leben zurückzukehren.
Russische Filme in Videoclipästhetik mit schnellen Schnitten und dominanter Musik wie „Antisex“ oder „Schara“ (Die Hitze) gehören zu den Kassenschlagern der vergangenen Monate. Welche neuen Trends gibt es im russischen Kino?
Kalatozishvili: Es gibt zurzeit tatsächlich eine Tendenz hin zu Filmen in Videoclipästhetik. Ich gehe aber davon aus, dass dieses Phänomen nur kurzzeitig ist, weil es mit der eigentlichen Art und Weise, Kinofilme zu machen, nur wenig zu tun hat. Zurzeit habe ich nicht das Gefühl, einen Trend zu erkennen, der eine bahnbrechende Entwicklung nach sich ziehen würde, wie die Nouvelle Vague in Frankreich. Es gibt nichtsdestotrotz junge Regisseure, die Filme anders machen – auf ihre eigene Art und Weise. Sie wenden sich dabei aber eher ab von der Videoclipästhetik und kehren meist zur klassischen Filmsprache zurück. Um diese Entwicklungen zu etablieren, brauchen wir aber noch viel Zeit. Vor allem, weil man in Russland immer viele Umwege gehen muss.
Sie selbst arbeiten auch als Produzent. Wie viel Geld investiert der Staat jährlich in die russische Filmförderung?
Kalatozishvili: Jeder Film, der in Russland gedreht wird, bekommt vom Staat eine Million Dollar. Den Rest muss der Produzent selbst auftreiben. Wie das zukünftig, nach der Finanzkrise, aussehen wird, ist noch nicht abzusehen. Seitens der Regierung gibt es bei der Filmauswahl keine politische Selektion. Jeder, der einen Film machen will, muss eine Produktionsfirma finden, die ihn unterstützt und bekommt dann die staatliche Förderung. Meine Produktionsfirma hat beispielsweise zwei Filme gedreht, die komplett ohne staatliche Unterstützung ausgekommen sind. So etwas gibt es bei uns auch.
Der Vorteil von nicht subventionierten Filmen ist, dass sich die Produktionsfirmen mehr anstrengen, den Film auch wirklich in die Kinos zu bringen. Schließlich wollen die privaten Investoren ihr Kapital zurückbekommen und bestenfalls noch Gewinne machen.
Wie macht sich die derzeitige Finanzkrise in der russischen Filmbranche bemerkbar?
Kalatozishvili: Die Projekte, die privat finanziert wurden, stecken zum Teil fest, wie beispielsweise ein Fernseh-Projekt, dass ich gerade mit meiner Produktionsfirma umsetzten wollte. Was staatlich geförderte Projekte betrifft, sind noch keine Auswirkungen spürbar. Bisher trifft die Finanzkrise vor allem die großen Produktionsfirmen. Sie können die immensen Budgets nicht mehr auftreiben, die für den Dreh von Blockbustern notwendig sind. Anders sieht es bei den kleinen Filmproduktionen aus. Für sie ist die Finanzkrise zu einer Überlebenschance geworden.
Mit 120 bis 150 Produktionen jährlich ist Russland inzwischen das produktiosstärkste Filmland Osteuropas. Was zeichnet den russischen Film aus und was fehlt ihm?
Kalatozischwili: Das allergrößte Problem bei uns ist es, die Filme überhaupt auf die Leinwand zu bringen. Der Rest wird sich in Zukunft einrenken, weil es viele junge talentierte Regisseure gibt, die Filme machen und machen wollen. Aber das wichtigste ist, dass das Publikum diese Filme überhaupt erst einmal zu sehen bekommt.
Woran arbeiten Sie zurzeit?
Kalatozishvili: Mein neuer Film spielt weder auf dem Land noch in der Stadt. Es geht darum, dass ein Mensch, der versucht, einem anderen Menschen das Leben zu retten, plötzlich zu dessen Feind wird.
Was wünschen Sie dem russischen Film?
Kalatozishvili: Ich wünsche mir, dass die Menschen Filme sehen wollen. Und zwar nicht, weil sie Opfer der Werbung geworden sind, sondern weil es ihr Wunsch ist, etwas zu sehen, das sie zum Nachdenken anregt. Es gibt auf der ganzen Welt eine Menge Filme, die es schaffen, einen Dialog mit dem Zuschauer herzustellen. Und wenn es solche Filme nicht mehr geben würde, würden wir alle nur noch Popcorn essend und Cola trinkend im Kino sitzen und Filme in Videoclipästhetik schauen. Das wäre keine gute Aussicht.
Michail Kalatozishvili ist am 12. November 2009 überraschend gestorben. Das Interview enstand wenige Wochen vor seinem Tor.
Er wurde 1959 in Tiflis (Georgien) geboren und lebte seit 1973 in Moskau. Dort hatte er Regie an der weltältesten Filmhochschule VGIK studiert.
Michail Kalatozishvili ist der Enkel des berühmten sowjetischen Regisseurs Michail Kalatozow. Er hat als Regisseur, Drehbuchautor und Produzent bei den Filmstudios „Gruzia-Film“ gerabeitet, ab 1996 bei den Filmstudios „Lenfilm“. 1992 erhielt er den Spezialpreis der Jury für den Film „Izbrannik“ bei dem Internationalen Filmfestival in Madrid. Sein Film „Dikoje pole“ (Wildes Feld) lief im Wettbewerb beim 65. Internationalen Filmfestival in Venedig.
Auf der Biennale in Venedig bekam „Wildes Feld“ den Art Cinema Award verliehen. Bereits einige Monate vorher begeisterte der Film die Jury auf dem wichtigsten russischen Filmfestival „Kinotaurus“ in Sotschi. „Wildes Feld“ erhielt dort Preise für das beste Drehbuch und die beste Filmmusik, außerdem den Kritikerpreis des Festivals.