Der Prophet im eigenen Land
Moskau (n-ost) - In Russland gibt es einen Witz: Was haben Michail Gorbatschow und der gleichnamige Wodka gemeinsam? Beide schmecken den Russen nicht. 15 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion verbinden die Russen mit dem letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion vor allem den Zusammenbruch der einstigen Supermacht UdSSR. Altkommunisten spucken bei Demonstrationen in Moskaus Innenstadt aus, während sie „Gorbatschow, Verräter“ skandieren. Am 2. März wird Gorbatschow 75 Jahre alt. Außer einem kleinen Empfang im Kreml bei Präsident Wladimir Putin wird dieser Geburtstag ruhig begangen und von der russischen Öffentlichkeit im Großen und Ganzen ignoriert werden.
Dünn ist Michail Gorbatschow geworden und er wirkt ein wenig verloren hinter dem schwarzen Eichenschreibtisch, den er aus dem Kreml mit in sein Moskauer Stadtbüro genommen hat. Dort empfängt er meist ausländische Gäste, die den ehemaligen Staatschef nach wie vor schätzen. So war Helmut Kohl schon des Öfteren zu Gast. Den Altkanzler und „Gorbi“, wie er nur in Deutschland genannt wird, verbindet seit den Schicksalstagen in den Jahren 1989 und 1990 eine innige Freundschaft. „In Deutschland lieben mich die Menschen und erkennen, dass es zu meiner Politik keine Alternative gab“, sagt Gorbatschow ohne Verbitterung.
Der einstige Kremlherrscher wurde 1931 im Dorf Priwolnoje geboren, das nur 100 Kilometer vom tschetschenischen Grosny entfernt liegt. Mit elf erlebte Gorbatschow die kurzzeitige Besetzung seines Dorfes durch die Wehrmacht, erarbeitete sich dann mit 17 als Mähdrescher-Fahrer den „Orden des Roten Arbeitsbanners“, wurde Komsomolzen-Führer, studierte schließlich Jura in Moskau, vergoss dort aufrichtige Tränen bei Stalins Tod 1953, bildete sich im Fernstudium zum Agrar-Ökonomen weiter und stieg in seinem Heimatbezirk Stawropol im Nordkaukasus zum Parteisekretär auf und schaffte 1978 den Sprung ins Politbüro der Kommunistischen Partei.
Leonid Breschnew, Konstantin Tschernenko, Juri Andropow – diese greisen Sowjetführer verkörperten Anfang der 80er Jahre den stetigen Verfall der Sowjetwirtschaft. Innerhalb von zweieinhalb Jahren wurden alle drei Generalsekretäre zu Grabe getragen. Einen weiteren „Todeskandidaten“ wagte das ZK dem Volk nicht mehr vorzusetzen. Die Wahl fiel am 11. März 1985 auf Gorbatschow. Nicht, weil dieser als Politiker besondere Erfolge vorweisen konnte, sondern weil er als erst 54-Jähriger eine längerfristige Perspektiven versprach. „Aus der Ansammlung von Gebrechen … ragte Gorbatschow als Sonderling heraus. Er sah aus wie ein Mensch“, stellt der russische Journalist Ilja Milstein fest.
Für Millionen in ganz Osteuropa begann mit Gorbatschows Machtantritt der Weg in die Freiheit. „Die Sowjetunion war bis ins Mark marode und ein unmenschliches System“ begründet Gorbatschow heute seinen Reformeifer. Anders als in der DDR hätten jedoch die Menschen in der UdSSR nicht dieses große Gefühl der Unfreiheit gehabt. „In der Sowjetunion wäre nie jemand auf die Straße gegangen, Reformen mussten oktroyiert werden. Das ist bis heute so.“
Gorbatschow der Revolutionär: Unter den Stichworten „Perestroika“ (Umgestaltung) und „Glasnost“ (Offenheit) krempelte er die Sowjetunion um. Freie Wahlen, Redefreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Mehrparteiensystem, Privateigentum in der Wirtschaft, Aktiengesellschaften, Respektierung der Souveränität anderer Staaten, all dies wurde binnen weniger Jahre möglich. Zudem beendete Gorbatschow den Rüstungswettlauf und zog die Sowjettruppen aus Afghanistan zurück. Als in der DDR die Menschen gegen Erich Honeckers Mauersozialismus auf die Straße gingen, war es Gorbatschow, der sie mit dem Spruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ ermutigte und zudem die Truppen der Roten Armee in den ostdeutschen Kasernen zurückhielt. Sogar der Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands in der Nato und der Rückführung aller sowjetischen Soldaten aus ganz Osteuropa stimmte er zu. Auch dies hat ihm 1990 den Friedensnobelpreis eingebracht.
Nur einmal kam es unter Gorbatschows Regentschaft zum Einsatz von Gewalt: Als im Januar 1991 die drei baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit erklärten. Doch vieles spricht dafür, dass es gerade Gorbatschow war, der mäßigend auf die Militärs einwirkte und Schlimmeres verhinderte. Als der Apparat im August 1991 gegen in putschte, war der Machtverlust der Kommunistischen Partei schon viel zu weit fortgeschritten. Das Rad der Geschichte konnte nicht mehr zurückgedreht werden.
Völlig unterschätzt habe er, dass der Weg der Demokratisierung geradewegs in das totale wirtschaftliche Chaos führte, bekennt Gorbatschow. „Mir fehlte leider das wirtschaftliche Verständnis. Ich habe es zwar geschafft, die vorhandenen verkrusteten Strukturen der Sowjetunion aufzulösen, ohne aber gleichzeitig neue, funktionsfähige und effektive zu schaffen.“ Bedauern würde er aber nichts: „Ich habe nichts zu bereuen und würde jeden Schritt noch einmal genauso tun, wie ich es getan habe.“
Er hat Verständnis dafür, dass seine Landsleute ihm gram sind. „Wirtschaftliche Stabilität, ein eigenes, menschenwürdiges Auskommen sind wichtig. Das alles ist im Empfinden der Menschen nach 1991 weg gebrochen, die Not war groß und die Leute suchten einen Schuldigen.“ Dass man ihn in Deutschland so liebe, erklärt sich Gorbatschow dann auch so: „Ich, natürlich nicht alleine, konnte das Geschenk der Deutschen Einheit machen. Alle Schwierigkeiten, die danach auch auf Deutschland zukamen, bringen die Menschen nicht mit mir in Verbindung.“
Auf seinem Schreibtisch steht ein gerahmtes Foto seiner Frau Raissa. „Ihr Tod 1999 hat mich mehr mitgenommen, als alle politischen Umwälzungen in meinem Leben“, sagt Gorbatschow und seine Augen werden feucht. Ihm sei es ganz Recht, dass er seinen Geburtstag relativ ruhig begehen könne. „Ich stoße im vertrauten Kreis mit einem Gläschen auf die Zukunft Russlands an“, sagt er.
Danach aber geht es nach Deutschland: Die Stadt Bremen hat den Jubilar eingeladen und richtet am 5. März die große Geburtstagsfeier aus, die ihm in seinem Heimatland versagt bleibt. Die Bremer Philharmoniker geben zugunsten der Gorbatschow-Stiftung für Wissenschaft und Forschung ein Benefizkonzert und 1100 Gäste werden „Gorbi“ hochleben lassen.
Gorbatschows Kurzbiographie:
Geboren am 2. März 1931 in Priwolnoje, Nordkaukasien
1952: Eintritt in die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU)
1953: Hochzeit mit seiner Frau Raissa
Bis 1955 Jura-Studium an der Moskauer Lomonossow-Universität
1971: Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU
1979: Eintritt ins Politbüro der KPdSU
11. März 1985: Generalsekretär der KPdSU
1988: Abkehr von der Breschnew-Doktrin
1990: Deutsche Wiedervereinigung, Ende des Kalten Krieges
1990: Gorbatschow erhält den Friedensnobelpreis 18.-21. August 1991: Putsch gegen Gorbatschow scheitert 25. Dezember 1991: Gorbatschow tritt als Präsident der UdSSR zurück
1992: Gründung der Gorbatschow-Stiftung
Ende
Name der Autors: Tobias Zihn