Bulgarien

Die vergessenen Kinder

Oberschwester Andreeva, eine füllige Frau mit kurzen, rot gefärbten Haaren, sitzt an ihrem Schreibtisch und blickt durch die verwaschenen Scheiben hinaus auf den Hof. Ein paar Kinder spielen dort auf verwitterten Geräten, andere ziehen allein ihre Runden, ein kleiner Junge sitzt an eine Mauer gelehnt auf dem Betonboden, den Blick starr nach unten gerichtet. „Schauen Sie sich die nur an“, seufzt die Schwester und deutet mit dem Kugelschreiber nach draußen, „wir haben nur schwere Fälle hier.“ Diagnose seit frühester Kindheit: „schwere geistige Zurückgebliebenheit“.

Das Dorf Gorna Koznica liegt nahe der makedonischen Grenze. Früher müssen hier einmal viele Menschen gelebt haben. Heute trifft man kaum jemanden auf den Straßen, viele Häuser stehen leer und verwittern. Nur alte Leute sind übrig geblieben, und 53 Kinder. 53 geistig behinderte Kinder und Jugendliche aus dem Heim, das sich neben dem Bürgermeisteramt im Ortszentrum befindet.

Mitko, einer der Ältesten, ist 22. Er steckt in einer braunen Armeejacke, eine Spende aus den USA, blauen Trainingshosen und Winterstiefeln. Träge er nicht einen Bart, man würde ihn für viel jünger halten. Mitko hat fast sein ganzes Leben in diesem Heim verbracht. In seinem kargen Schlafsaal, in dem Dutzende Metallbetten stehen, in dem schmucklosen Esssaal, wo die Kinder hastig ihre Mahlzeiten hinunterschlingen, bevor sie wieder hinausbugsiert werden, auf dem betonierten Hof und im brach liegenden Garten der Anstalt. Zu seinen Eltern, die als Anwälte arbeiten, hat er nie Kontakt gehabt. Sein Leben in staatlicher Fürsorge begann schon als Baby.

Noch immer wachsen Bulgarien fast alle Menschen mit intellektueller Behinderung fernab ihrer Familie auf. Im Sozialismus wurde die Politik der Segregation gleich nach der Geburt gefördert. Ärzte legten Müttern damals nahe, ihre Kinder speziellen Heimen zur Betreuung zu überlassen. Kranke, beeinträchtige Menschen oder soziale Problemfälle sollte es im alltäglichen Leben nicht geben. Personen, die nicht ins Bild des „normalen“, arbeitsfähigen Menschen passten, wurden weitab von der Gesellschaft in den Institutionen versorgt. Noch heute besteht dieses enge Netz an staatlichen Fürsorgeeinrichtungen, die größtenteils auf dem Land, ja sogar in schwer zugänglichen Gebirgsgegenden gebaut wurden.

Das Schwesternzimmer ist nur mit dem Allernotwendigsten ausgestattet: Krankenbett, mechanische Waage, Medikamentenschrank. Ein paar Blumen zieren das Fensterbrett. In diesen Raum zieht sich das medizinische Personal zurück, wenn gerade nicht die Medikamentenvergabe oder Essensausgabe auf dem Plan stehen. Wenn ein Kind auffälliges Verhalten zeigt, ist man zur Stelle, ansonsten sind sie weitgehend sich selbst überlassen. Was aber ist mit zusätzlicher Betreuung, mit Frühförderung, mit Therapie? Einen Psychologen gibt es nicht. Einmal erstellte Diagnosen werden nicht revidiert, Therapien finden nur unregelmäßig statt und sind häufig nicht auf die individuellen Erfordernisse abgestimmt. Die Bewegungstherapeutin, eine junge Frau, scheint nach sechs Jahren Arbeit im Heim ihre Motivation verloren zu haben. „Diese Kinder zerstören doch alles“, sagt sie. Sie zeigt auf ihre neuen therapeutischen Geräte, die in einem bunt dekorierten Turnsaal stehen. Mit der finanziellen Hilfe von British Airways wurde die Ausstattung zur Verfügung gestellt, erzählt sie. Doch jetzt im Winter ist der Saal unbenutzbar. Die Heizung funktioniert nicht, es ist bitterkalt. Fast hat es den Anschein, als müssten die wertvollen Geschenke vor den Kindern geschützt werden.

Mitschuld an der entmutigenden Situation hat auch die schlechte Entlohnung im Sozialbereich. Von den niedrigen Löhnen müssen noch die täglichen Fahrtkosten selbst beglichen werden. Dadurch rutscht etwa die Bezahlung des medizinischen Personals auf den bulgarischen Mindestlohn von 150 Leva, umgerechnet 70 Euro, ab. Eine Hilfsärztin sagt, was viele hier denken: „Der Staat kümmert sich um die Kinder, nicht aber um das Personal.“

Die letzte Regierung unter Premier Sakskoburggotski führte in den vergangenen drei Jahren erstmals Reformen im Fürsorgebereich durch. Man hatte sich viel vorgenommen: einen Abbau der Heime für geistig Behinderte um 20 Prozent, die Ausweitung des Angebots alternativer Unterkünfte wie etwa betreutes Wohnen. „Es hat sich einiges getan, aber nicht alle Probleme wurden in der Praxis adäquat gelöst“, erklärt Slavka Kukova vom Bulgarischen Helsinki Komitee. Die Menschenrechtsorganisation, die sich nach der legendären Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 in Helsinki gegründet hatte, führt seit 1999 ein Monitoring der Fürsorgeinstitutionen durch – und hat erschreckende Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. „Heute haben wir das Resultat, dass weder viele Heime geschlossen wurden, noch viele neue Alternativen angeboten werden“, konstatiert Kukova. Außerdem sei da noch das Problem der fehlenden Finanzmittel: „Mit dem budgetierten Geld möchte man Zusätzliches leisten, wo es doch nur für die Grundversorgung ausreicht.“

Wenn man genau schaut, dann sind in Gorna Koznica einige Verbesserungen zu entdecken: neue Fenster, neue Badezimmer und Toiletten – das sind die mageren Resultate der letzten Jahre. Doch die bulgarische Gesellschaft tut sich noch schwer mit der Integration von geistig Behinderten. Von den 53 Kindern des Heimes bekommt nur ein Mädchen hin und wieder Besuch von seiner Mutter.


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