Deutschland

Im Osten viel Neues

ostpol: Frau Sikora, vor zehn Jahren hat das Deutschen Filmistitut (DIF) das Wiesbadener goEast-Filmfestival ins Leben gerufen, um die westliche Ignoranz gegenüber unseren osteuropäischen Nachbarn aufzubrechen. Ist das gelungen?

Swetlana Sikora: Ja, absolut. Die Zuschauer in der Mitte Deutschlands wussten damals von der osteuropäischen Kultur viel weniger als beispielsweise über die Kultur Chinas. Dabei sind die Osteuropäer doch unsere direkten Nachbarn. Sie haben zwar in einem anderen politischen System gelebt, aber ihre Kultur hat sich trotzdem parallel zu der Kultur in Westeuropa entwickelt. Wir wollten den Menschen hier Zugang zur osteuropäischen Kultur verschaffen. Das ist uns mit dem aussagekräftigen Medium Film gelungen.

Woran lässt sich so etwas messen?

Sikora: Zum Beispiel daran, dass wir hier inzwischen ein Stammpublikum haben. Es gibt Menschen, die sich extra für das goEast-Festival Urlaub nehmen. Unsere Zuschauer kommen aus Wiesbaden, Frankfurt und Mainz, es sind junge und ältere Menschen, ein ganz gemischtes Publikum. Im vergangenen Jahr hatten wir etwa 9.000 Besucher und das Interesse am Festival wächst von Jahr zu Jahr.


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Das goEast-Filmfestival

2001 vom Deutschen Filminstitut (DIF) gegründet, sollte sich das Festival des mittel- und osteuropäischen Films als feste internationale Bühne für den Austausch zwischen der Filmkultur in Ost und West etablieren. Jährlich präsentiert das Festival in seinem Wettbewerb zehn aktuelle Spiel- und sechs Dokumentarfilme aus den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie Koproduktionen mit maßgeblicher Beteiligung aus diesen Ländern. Am Dokumentarfilmwettbewerb nehmen auch Produktionen aus Deutschland und Israel teil, die einen klaren Bezug zu Mittel- und Osteuropa aufweisen.

Der Hauptpreis des internationalen Wettbewerbs geht an den besten Film und heißt seit 2005 „Goldene Lilie“. Jährlich besuchen rund 150 geladene Gäste die Bilderschau, darunter namhafte Regisseure und Stars wie Krzysztof Zanussi, Jiri Menzel, Istvan Szabo, Kira Muratova oder Martin Sulik. Das diesjährige Jubiläumsprogramm präsentiert Höhepunkte aus zehn Ausgaben goEast, das sich traditionell aktueller Filmkunst, Nachwuchsförderung und Filmhistorie widmet.

Das 10. goEast-Filmfestival fand vom 21. bis 27. April 2010 in Wiesbaden statt.

Wo stand der osteuropäische Film in der Nachwendezeit?

Sikora: In der Nachwendezeit herrschte in der Filmlandschaft der osteuropäischen Länder große Verwirrung. Die gesamte staatliche Filmförderung war zusammengebrochen und die rebellischen Regisseure, die während der Diktatur Filme gemacht haben, mussten sich ganz neu orientieren. Es gab eine künstlerische Krise, weil die Filmemacher zwar plötzlich sagen konnten, was sie wollten, aber mit dieser Freiheit nichts anzufangen wussten.

Wie hat sich das künstlerisch geäußert?

Sikora: Es gab einen ganzen Schwarm von Regisseuren, die versuchten, Hollywood-Produktionen nachzuahmen, statt eine eigene Filmsprache zu entwickeln. In dieser Zeit sind vor allem besonders blutige Mafia- und Kriminalfilme gedreht worden. Zum Glück war die Krise nach etwa fünf Jahren überstanden, und danach entwickelte sich wieder eine eigene Kunstsprache.

Was hat sich seither getan?

Sikora: Inzwischen haben die Länder in Osteuropa unterschiedliche staatliche Filmförderungen auf die Beine gestellt, und es ist eine neue Generation von jungen, talentierten Filmemachern herangewachsen. Sie nehmen die Probleme in ihrer Heimat wahr und setzen sie in einer eigenen Sprache um, wobei sie oft den Bezug zur Filmtradition ihres Heimatlandes wahren. Was die Qualität betrifft, stehen osteuropäische Filme mittlerweile auf derselben Ebene wie westeuropäische Produktionen. Sie sind keine Exoten mehr. Sie haben sich in der europäischen Filmkultur behauptet, vertreten ihre Heimatländer auf internationalen Festivals und werden in Cannes, Venedig und Berlin ausgezeichnet.

Eine positive Bilanz, die allerdings die Frage aufwirft, wozu dann noch Festivals wie „goEast“ oder das „Cottbuser Filmfestival“ veranstaltet werden?

Sikora: Es gibt eine Menge Festivals, die sich geopolitisch spezialisieren – wie die Nordischen Filmtage oder das Afrikanische Filmfest. Solche Veranstaltungen haben ihre Berechtigung, weil sich auf den großen Festivals nur einzelne Filme behaupten können. Wir hingegen bieten eine fokussierte Plattform, auf der alle möglichen Tendenzen des osteuropäischen Films auch kontinuierlich nachvollzogen werden können. Es ist die Aufgabe von Festivals wie „goEast“, den Weg der ehemals sozialistischen Länder zu beobachten, da sie sich ja immer noch in einer Entwicklung befinden.

Was bringen osteuropäische Filmfestivals in Deutschland dem osteuropäischen Film?

Sikora: Sie sind ein sehr gutes Sprungbrett für junge Regisseure. Die beiden russischen Filmemacher Boris Chlebnikow und Alexej Popogrebskij sind 2004 mit ihrem Debüt „Koktebel“ bei goEast angetreten und haben den Preis für den besten Film gewonnen. In den folgenden Jahren kamen sie mit weiteren Werken zu uns und haben unter anderem Preise für die beste Regie erhalten. In diesem Jahr hat es Popogrebskij dann geschafft, mit seiner aktuellen Produktion „How I ended this summer“ drei Preise auf der Berlinale abzuräumen.

Trotzdem schafft es kaum ein osteuropäischer Film auf die deutschen Leinwände. Warum?

Swetlana Sikora: Das müssen Sie mich nicht fragen! Wir tun alles, um die Filme aus Osteuropa populär zu machen. Aber das osteuropäische Autorenkino, das ja unser Schwerpunkt ist, spielt einfach zu wenig Geld ein, um regulär in die Kinos zu gelangen.

Wenn Sie die Filme aus der sozialistischen Zeit mit den heutigen Produktionen vergleichen, was ist der größte Unterschied?

Sikora: Was das Autorenkino betrifft, so liegt der größte Unterschied vor allem darin, dass die Regisseure gezwungen waren, ihre Ideen und Aussagen so zu verpacken, dass die Zensur es entweder nicht merkt oder auf eine falsche Fährte geleitet wird. Autorenfilme waren früher auf einem sehr professionellen Niveau eher philosophisch angelegt. Heute müssen die Regisseure nichts mehr verstecken oder sich verstellen, sie können sich offen zu Problemen und Tendenzen im Land äußern. Heute dreht sich auch im osteuropäischen Filmgeschäft alles vor allem um die Filmidee, um Professionalität und – wie in Westeuropa auch – darum, das Geld für die Produktion zu beschaffen.

Lassen sich im diesjährigen Wettbewerb verwandte Themen finden, denen sich die osteuropäischen Regisseure widmen?

Sikora: Ja, seit ungefähr drei Jahren beobachten wir den Trend, dass viele Autoren sich sehr ernsthaft und besorgt mit Themen rund um die Sozialpolitik beschäftigen und mit deren psychologischen Auswirkungen auf einzelne Schicksale.

Können Sie Beispiele nennen?

Sikora: Wir zeigen beispielsweise „Metastasen“, eine Gemeinschaftsproduktion der Balkanländer von Branko Schmidt, der sich dem Problem der verlorenen Generation in Serbien widmet. Diese jungen Leute haben ihre Jugend im Krieg verbracht und sehen in ihrem Land keine Perspektive. Sie resignieren, greifen zu Drogen und werden gewalttätig. „Ich, Tomek“ des Polen Robert Glinski ist ein sehr starker Film über junge Polen, die sich prostituieren, um konsumieren zu können. Es geht um Statussymbole, die nicht zugänglich sind und deswegen sehr begehrt werden.


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