Russland

Es müssten jedes Jahr siebenhundertfünfzig Jahre sein – Wie man das deutsche Königsberg im russischen Kaliningrad feiert


Der Platz des Sieges, das heutige Zentrum von Kaliningrad, liegt ein paar Kilometer nördlich von der einstigen Stadtmitte Königsbergs. Hier schießen die Geschäfte aus dem Boden, Kaufhäuser oder Einkaufspassagen für jene, die sich etwas leisten können. Daneben sieht man ein paar ältere Verwaltungsgebäude und den neoklassizistischen Nordbahnhof von 1930. Der Platz des Sieges, der zu deutschen Zeiten Hansaplatz hieß und zwischenzeitlich den Namen Adolf Hitlers trug, ist ein Ort der Repräsentation. Am Rande des Platzes wächst zwischen Bäumen und Gerüsten die russisch-orthodoxe Christ-Erlöser-Kathedrale in die Höhe. Dieser Kirchenbau im traditionellen byzantinischen Stil mit seinen fünf goldglänzenden Türmen soll einer der prächtigsten seiner Art in Russland werden. Allerdings werden die Arbeiten noch längst nicht abgeschlossen sein, an diesem Sonntag, dem politisch bedeutendsten Tag des großen Jubiläums, dem Tag, an dem Putin, Schröder und Chirac kommen. Die Elektriker, die wenige Tage vor den Feierlichkeiten noch an drei neuen Springbrunnen hantieren, dürften ihre Aufgabe hingegen rechtzeitig erledigt haben. Und der große Messingstern wurde längst in den Granitboden des Siegesplatzes eingelassen. „Kaliningrad – 750 Jahre“ lautet die Inschrift.

Dieses Jubiläum ist gewiss ein Politikum, aber es ist auch ein mathematisches Rätsel, meint Peter Wunsch – mit einem Anflug von Ironie. Der redegewandte Berliner leitet das Deutsch-Russische Haus, das die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in den frühen neunziger Jahren als Begegnungsstätte und Kulturzentrum eingerichtet hat. Eigentlich blieben doch von den 750 Jahren nur 59 Jahre Kaliningrad übrig, wenn man erst einmal die 691 Jahre Königsberg abgezogen habe, rechnet Wunsch vor und räumt diplomatisch ein: „Die russische Seite richtet die Party aus, da hat sie auch das Recht, sie so zu nennen, wie sie es für richtig hält.“
Dass Russland sechzig Jahre nach Kriegsende den Geburtstag einer Stadt feiert, deren Grundstein vor 750 Jahren der Deutsche Orden gelegt hat, einer Stadt, deren Name in der Welt sich mit Kant, Hamann und Herder verbindet, hat in Deutschland manche Freude ausgelöst. Dass der Name Königsberg, den die Stadt bis 1946 trug, dabei unter den Tisch gefallen ist, hat allerdings für Irritationen gesorgt.

Kaliningrad also. Aber so streng wie das verantwortliche Moskauer Festkomitee nimmt man es am Pregel dann doch nicht - wohl schon länger nicht mehr. „KenigAvto“ steht auf den russischen Reisebussen, mit denen man ins benachbarte, polnische Danzig gelangt. „Kenig“ heißt die Stadt im heutigen Jargon ihrer Bewohner, vor allem der Jugendlichen. „Kenig“, das Wort klingt auf Russisch so deutsch wie in jenem ostpreußischen Dialekt, der nun schon seit längerem im Aussterben begriffen ist. „Königsberg-Kaliningrad, das ist normal“, erklärt Vera Sabotkina, und das will heißen: egal. Die Prorektorin der Kaliningrader Universität, von Hause aus Anglistin, arbeitet mit ihren Kollegen daran, die russische Exklave zwischen Litauen und Polen in Europa neu zu vernetzen. Gewiss, sagt sie, war dieser Kalinin ein furchtbarer Mensch, aber er war ein Russe, und ein neuer Name sei einstweilen nicht in Sicht. Kalinin bleibt in Kaliningrad – erst einmal, während er andernorts in Russland längst in Ungnade gefallen ist. Das Denkmal des Dreharbeiters, Staatsoberhaupts und Stalin-Vasallen Michail Ivanovitsch Kalinin steht nach wie vor am ehemaligen Reichsplatz, am südlichen Rand der Innenstadt, vor dem alten Hauptbahnhof, den man vor kurzem eindrucksvoll renoviert hat. Hier trifft an jedem Nachmittag ein Fernzug aus Berlin-Lichtenberg ein, eigentlich ist es nur ein einziger Schlafwagen, der auf seiner fünfzehnstündigen Fahrt mehrfach umgehängt und zwischendurch auf Nebengleisen abgestellt wird. Sobald man die Bahnhofshalle verlässt, begegnet man dem Namenspatron vor der Kulisse seiner Stadt.

Königsberg wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs stark zerstört. Als die letzten Deutschen 1947 gingen, bestand die Innenstadt vor allem aus Ruinen. Auf den Trümmern errichteten Stadtplaner später ein neues gesichtsloses Zentrum aus dem sowjetischen Modellbaukasten. Das alte Königsberger Schloss diente als Steinbruch im Wiederaufbau. In den sechziger Jahren wurde es dann gesprengt. An seiner Stelle entstand ein bis heute nicht zu Ende geführter Betonkasten, das Haus der Räte, im Volksmund „Monster“ genannt. Vieles wurde vernichtet, aber nicht alles. Davon kann sich überzeugen, wer die alten Viertel auf beiden Seiten der Hufenallee besucht, die heute Friedensprospekt heißt. Hier stehen die immer noch prächtigen Bürgerhäuser der Gründerzeit, die Jugendstilvillen im Schatten üppig wachsender Bäume, die kleinen Paläste im Landhausstil. Spuren des alten Königsbergs finden man ebenso in der Gartenstadt mit ihren Kopfsteinpflasterstraßen um den Oberteich – oder nicht weit entfernt an der alten Festungsmauer, zum Beispiel im Wrangelturm. Bäume wachsen aus dem dicken Ziegelgemäuer, Seerosen schwimmen neben leeren Flaschen im Wassergraben. In den Gewölben des Wrangelturms hat sich ein Restaurant etabliert. Zum Dekor gehört ein Exemplar der alten Königsberger Zeitung, ein Radio, eine Schreibmaschine aus der deutschen Vorkriegszeit. Nebenan wird mit Antiquitäten gehandelt.

Zu sowjetischen Zeiten, vor allem in der Anfangsphase, war die deutsche Vergangenheit der Stadt ein Tabu. Aber auch das gesamte ehemals ostpreußische Territorium war von Geheimnissen umgeben, eine militärische Sperrzone, mit Atomwaffen bestückt, unerreichbar für Ausländer – und selbst für Sowjetbürger nicht ohne weiteres zugänglich. Einer der ersten Russen, die unbefangen über das alte Königsberg sprachen, war der Lyriker und spätere Nobelpreisträger Joseph Brodsky. In den sechziger Jahre kam er als Journalist, trank Bier im alten Hansehotel „Goldener Anker“, besang das alte Schloss und sinnierte über die Spiegelungen der damals noch existierenden Schlossruine im Wasser des Pregel. Der Wunsch, das alte Königsberg zu bewahren, vielleicht sogar wieder etwas von dem Zerstörten aufzubauen, erhielt in den neunziger Jahren starken Auftrieb. Nun wurde es geradezu populär, den zu Slums herabgesunkenen Wohnblocks der Chruschtschow-Ära und den vom Zerfall bedrohten Plattenbauten der Breschnew-Zeit das Alte, das Bewährte, das Königsbergische entgegenzuhalten. Inzwischen waren auch die Deutschen da, in recht unterschiedlicher Gestalt: Vertriebene, Gastwissenschaftler, Stiftungen, Städtepartner und schließlich sogar ein Konsul. Einigen Kaliningradern, vor allem russischen Kriegsveteranen, ginge der deutsche Einsatz schon zu weit, sagt Peter Wunsch vom Deutsch-Russischen Haus. Doch das Gros der Bewohner freue sich eben, wenn vor dem alten Universitätsgebäude, wo einmal der Paradeplatz war, ein neues Kant-Denkmal stehe, eine Kopie der alten Statue von Christian Daniel Rauch – finanziert von der Zeit-Stiftung. Aber Kant ist ja ohnehin jeder Kritik enthoben. Der bekannteste Königsberger eignete sich stets auch als Integrationsfigur für Deutsche und Russen. Die Ideologen des Sowjetsystems priesen ihn als Vorläufer von Marx und Lenin. Heute gilt er vor allem als Weltbürger, als Vordenker des Friedens und Freund der Menschheit, wie es Vera Sabotkina ausdrückt. Ihre Kaliningrader Universität hat sich rechtzeitig zum großen Jubiläum in „Staatliche Russische Kant-Universität“ umbenannt. An Kant führt wirklich kein Weg vorbei. Auf seinem Grab auf der Rückseite des alten Doms auf der Kneiphofinsel legen junge Brautpaare traditionell Blumen nieder. Wäre das Grab des großen Aufklärers nicht am Dom, hätte man die Backsteinruine wahrscheinlich gesprengt. So konnte man sie in den vergangenen Jahren wieder aufbauen, auch mit deutschen Geldern, vor allem jedoch dank der Durchsetzungskraft eines ehemaligen Offiziers der Roten Armee.

Manches in Kaliningrad hängt heute von der Initiative seiner Bürger ab, vieles wird wie ehedem in Moskau bestimmt. Vladimir Putin, kein Freund des Föderalismus, lässt die Stadt ein wenig gewähren und schaut zugleich misstrauisch, ob die Zuneigung der ostpreußischen Russen zu Europa nicht doch überhand nehmen und die Nabelschnur zum Mutterland reißen könnte. Umgerechnet rund 30 Millionen Euro hat Moskau - nach mancher Querele übrigens - Anfang dieses Jahres für die 750-Jahrfeier zur Verfügung gestellt. Seit das Geld fließt, ist Kaliningrad eine einzige Baustelle. Es geht laut zu, hektisch – und chaotisch.
Manches Bauwerk wird gleichwohl mit großer Sorgfalt restauriert und, wie es scheint, nach allen Regeln des Denkmalschutzes. Zum Beispiel das alte Königstor, Wahrzeichen des russischen Stadtjubiläums. Wenige Tage vor den Feierlichkeiten leuchten die Backsteinmauern in hellem Rot. Hinter Plastikfolien lassen sich die Konturen des nun auch restaurierten alten Herrschertrios erahnen: Ottokar von Böhmen, der König, nach dem die Stadt ihren ursprünglichen Namen erhielt, Albrecht, der Hochmeister, Herzog und Universitätsgründer sowie Preußenkönig Friedrich I. Natürlich hat die 750-Jahrfeier den Kaliningrader das alte Königsberg näher gebracht. „Und die Stadt ist einfach schöner geworden“, konstatiert Vera Sabotkina und fügt hinzu: „Um wirklich etwas zu verbessern, müssten wir eigentlich jedes Jahr eine 750-Jahrfeier haben.“


*** Ende *** 

Dr. Martin Sander


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