750 Jahre Kaliningrad
Kaliningrad (n-ost) - Es ist, als sei die Stadt aus einem Tiefschlaf erwacht. Als wolle sie in ein paar Tagen aufholen, was in Jahrzehnten verwüstete, verwilderte, verkam. Kaliningrad, das alte heruntergewirtschaftete Königsberg, hat sich in eine große Baustelle verwandelt. Kaum eine Straße in der Innenstadt, in der nicht in den letzten Wochen der Asphalt ausgebessert und Gehwege erneuert, Fassaden renoviert oder wenigstens gestrichen wurden. Triste Betonwände verschwanden hinter Verkleidungen aus Aluminium und verspiegeltem Glas. Sogar das "dom sowjetow", Kaliningrads berühmt-berüchtigte Rätehaus-Ruine an der Stelle des 1969 gesprengten Königsberger Schlosses, bekam zum ersten Mal Farbe und neue Fenster.
Auf dem Platz vor dem nun alpinaweiß getünchten Betonklotz strahlt seit ein paar Tagen der größte Video-Bildschirm Russlands seine Werbebotschaften aus, die Bilder des hypermodernen Riesenfernseher sind noch aus einem Kilometer Entfernung gestochen scharf zu sehen. Das erstaunlichste der Kaliningrader Aufbruchswunder aber ist am zentralen Siegesplatz zwischen Rathaus und Nordbahnhof im Gange. Wo sich vor einem halben Jahr noch eine trostlose Aufmarschfläche sowjetischen Musters ausbreitete, glänzt jetzt polierter Granit und zu Ornamenten verlegtes Natursteinpflaster, gesäumt von Gründerzeit-Kandelabern, Bänken, frisch bepflanzten Blumenkübeln und Ahornbäumen. Das Lenindenkmal: abgerissen. Dafür wächst am Rand des Platzes, wo zu Königsberger Zeiten der Eingang zur Ostmesse lag, die riesige orthodoxe Christi-Erlöser-Kathedrale, Kaliningrads neues Wahrzeichen. Ein prachtvoller Bau, in weißen Marmor gehüllt, mit fünf goldenen Kuppeln. Die Kaliningrader sind mächtig stolz auf das neue Herz ihrer Stadt. Hunderte flanierten über den Platz, während am Rand noch die Bauarbeiter in Sonderschichten schufteten. Familien, Veteranen, ganze Schulklassen bestaunten die bronzene Windrose, deren selbstbewusste Inschrift vieles erklärt: "750 Jahre Kaliningrad".
Am kommenden Wochenende feiert die einstige Ostpreußenmetropole ihren großen Geburtstag. Ein großes dreitägiges Volksfest soll es werden - mit Konzerten von Jazz bis Folklore, Sonderausstellungen in Museen und Galerien, Ballettfestival, einer Ballonfiesta. Aus St. Petersburg macht die Fregatte "Standard" am Pregelkai fest, Kriegsveteranen sind eingeladen zum "Walzer des Sieges", Motorradfahrer aus allen Ostseeländern zum Bikertreffen "Baltischer Sturm". An allen drei Abenden zündet ein deutsch-russisches Team von Pyrotechnikern ein Feuerwerk der Spitzenklasse. Hotelzimmer in Stadt und Umgebung sind seit Wochen ausgebucht. Hunderte ausländische Gäste werden erwartet, allein 82 offizielle Delegationen - am 3. Juli auch Präsident Wladimir Putin, Frankreich Premier Chirac und mit Gerhard Schröder erstmals ein deutscher Bundeskanzler.
An diesem Tag, der unter dem Motto "Kaliningrad und Europa" steht, soll der Universität offiziell der Name des Königsberger Philosophen
Immanuel Kant verliehen werden. Den Spagat auf einem Bebenriss der Geschichte wagt gleich zu Beginn des Jubiläums der große Festumzug. Kostümierte Darsteller sollen alle Epochen aus der Vergangenheit der Stadt darstellen - von den Ordensrittern, die 1255 eine Burg am Pregelufer gründeten und sie zu Ehren ihres Heerführers Ottokar von Böhmen Königsberg nannten, bis zu den Soldaten der Roten Armee, die die Festungsstadt im April 1945 erstürmten: aus Königsberg, der Hauptstadt Ostpreußens, wurde das sowjetische Kaliningrad.
Lange war fraglich, ob das Fest überhaupt stattfinden würde. Auch wenn die Zeiten des Tabus vorbei sind - geheuer ist dem Kreml das öffentliche Ehren der deutschen Vergangenheit Kaliningrads nach wie vor nicht. Da kam der Protest vom Kriegsveteranen-Verband gegen das Gründungsgedenken "einer nicht mehr existierenden deutschen Stadt" gerade recht. Erst als Präsident Wladimir Putin Ende vorigen Jahres ein Machtwort sprach und die 750-Jahrfeier abnickte, konnte offiziell mit den Vorbereitungen begonnen werden. Sicherheitshalber behielt sich der Kreml die Programmregie vor, ließ die offizielle Jubiläums-Website fernab im sibirischen Tomsk produzieren und stellte eines klar: Der deutsche Name der Stadt habe im Titel des Festes nichts verloren.
So heißt das Jubiläum jetzt "750 Jahre Kaliningrad". So wie es auf der
Windrose auf dem Siegesplatz steht und auf zahllosen Plakaten, Transparenten, Wimpeln - und jeder hier weiß, dass das natürlich nicht stimmt. Für die Kaliningrader ist die deutsche Vergangenheit ihrer Stadt längst Teil gelebter Alltagskultur, und mit der gleichen
Selbstverständlichkeit feiert Kaliningrad auch Königsberg. Die Gemäldegalerie stellt, unterstützt von der Hamburger Zeit-Stiftung, historische Königsberger Fotografien und Druckgrafiken des ostpreußischen Malers Lovis Corinth aus. Das Dramentheater nennt sein Festival "Korolewskaja gora", was übersetzt nichts anderes als Königsberg heißt. Die örtliche Brauerei kredenzt dem Fest das Jubiläumspils "Königsberg 750" - auf dem goldumrandeten Etikett findet sich nicht ein kyrillischer Buchstabe, dafür das deutsche Reinheitsgebot. In Moskau und in Deutschland werden solche Geschichtsbezüge gern politisch ausgelegt. In Kaliningrad hingegen wundert es längst niemanden mehr, wenn sich Restaurants nach alten Königsberger Festungstürmen nennen und eine HipHop-Band halt "Kenig City Breakers" heißt.
Auch das offizielle Symbol der Kaliningrad-750-Feier stammt aus deutscher Zeit: das Königstor. Prachtvoll saniert steht das neugotische Backsteinbauwerk wie aus dem Ei gepellt am Litauer Wall, künftig dem Meeresmuseum als Filiale dienend. Bildhauern der Petersburger Ermitage gelang es sogar, die drei Sandsteinskulpturen in der Westfront des Tores zu
restaurieren. Den Figuren, sie zeigen Stadtgründer Ottokar von Böhmen, Herzog Albrecht von Brandenburg-Ansbach und Preußenkönig Friedrich I., fehlten 60 Jahre lang die Köpfe. Sowjetische Soldaten hatten sie den "Feinden" während der Erstürmung Königsbergs abgeschossen.
Ein Stück weiter stadteinwärts legen russische Archäologen seit drei Jahren die Reste des Königsberger Schloss frei - finanziert, auch eine typische Kaliningrader Kooperation, vom deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Als Pioniere der Sowjetarmee den Vierflügelbau 1969 auf Befehl Moskaus sprengten, sollte das Wahrzeichen der ostpreußischen Hauptstadt für immer unter dem Beton des Sozialismus verschwinden. Zur 750-Jahrfeier werden die ausgegrabenen Ruinen der Keimzelle Königsbergs nun wieder eröffnet - als Freilichtmuseum einer Stadt mit doppeltem Boden und Stätte des Gedenkens daran, dass sich Geschichte nicht einfach begraben
lässt.
***Ende***
Thoralf Plath