Russland

Reformieren bis zum Zusammenbruch

Berlin/Moskau (n-ost) – Kein Datum war für die Weltgeschichte der vergangenen 50 Jahre so entscheidend wie der 11. März 1985. An diesem Moskauer Vorfrühlingstag wurde Michail Sergejewitsch Gorbatschow zum neuen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) Russland ernannt. „Ein roter Stern steigt auf im Osten“, titelte die „Sunday Times“. Und der „Spiegel“ wusste über den neuen Parteichef: „Er ist ein intelligenter und ausgebuffter Macher, für Moskauer Verhältnisse fast schon ein Manager-Typ, in der Physiognomie ungewöhnlich für einen Spitzengenossen, lustig und listig. Außerdem hat er eine schöne Frau.“

Leonid Breschnew, Konstantin Tschernenko, Juri Andropow – diese greisen Sowjetführer verkörperten Anfang der 80er Jahre die bleierne Stagnation, den stetigen Verfall der Sowjetwirtschaft. Innerhalb von zweieinhalb Jahren wurden alle drei Generalsekretäre zu Grabe getragen. Einen weiteren „Todeskandidaten“ wagte das Politbüro dem Volk nicht mehr vorzusetzen. Die Wahl fiel auf Gorbatschow. Nicht, weil er als Politiker besondere Erfolge vorweisen konnte, sondern weil er als erst 54-Jähriger Perspektiven versprach.

Wer sich die Mühe macht, in Gorbatschows Biographie nach Anzeichen für den späteren Reformeifer zu graben, wird scheitern. Gäbe es sie, hätte er im Sowjetsystem wohl kaum Karriere gemacht. Der 1931 im 100 Kilometer vom tschetschenischen Grosny entfernten Dorf Priwolnoje geborene Russe hat eine typische Funktionärskarriere durchlaufen. Mit elf erlebte er die kurzzeitige Besetzung seines Dorfes durch die Wehrmacht, erarbeitete sich mit 17 als Mähdrescher-Fahrer den „Orden des Roten Arbeitsbanners“, wurde Komsomolzen-Führer, studierte dann Jura in Moskau, vergoss dort aufrichtige Tränen bei Stalins Tod 1953, bildete sich im Fernstudium zum Agrar-Ökonomen weiter und stieg in seinem Heimatbezirk Stawropol im Nordkaukasus zum Parteisekretär auf. Sein Amtsvorgänger Fjodor Kulakow wurde damals nach Moskau ins Politbüro berufen. Als Kulakow aus ungeklärten Gründen 1978 starb, beerbte ihn Gorbatschow ein zweites Mal.

Es waren bittere Jahre für die Sowjetmacht. Planwirtschaftliches Missmanagement und der teure Rüstungswettlauf forderten ihren Tribut, die Konsumgüterwirtschaft stockte und die Missernten häuften sich. Dass Gorbatschow als zuständiger Sekretär für Landwirtschaft diese Phase im Amt überlebte, hatte er dem damaligen KGB-Chef Juri Andropow und Außenminister Andrej Gromyko zu verdanken. Beide kurten gerne an den Mineralquellen des Nordkaukasus, kannten und schätzen Gorbatschow.

Kaum zum Generalsekretär befördert, gestand Gorbatschow öffentlich ein, was alle Welt schon wusste, dass sich der wirtschaftliche Abstand zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern nicht etwa verkleinert hatte, sondern dramatisch vergrößerte. Der Schleier der Illusion wurde gelüftet, die tiefe Glaubwürdigkeitskrise der nach Weltherrschaft strebenden kommunistischen Ideologie trat offen zu Tage. Nach zwei Jahren des Abtastens glaubte Gorbatschow dann mit „Perestrojka“ (Umgestaltung) und „Glasnost`“ (Transparenz, Offenheit) die richtige Rezeptur für die Sanierung gefunden zu haben. Zudem beendete er den Rüstungswettlauf und zog die Sowjettruppen aus Afghanistan zurück.

Heute ist sicher, dass Gorbatschow die ganze Dimension seines Handelns nicht bewusst war. Die Renovierung des morschen Systems endete mit dessen Einsturz, weil tragende Säulen angegriffen wurden. Als erste nutzten Polen und Ungarn die neuen Moskauer Freiheiten zu eigenen Reformversuchen. Wo sich die herrschenden Altkommunisten in böser Vorahnung sträubten - wie in Rumänien, Tschechien und in Ost-Berlin - wurde „Gorbi“ zum wichtigsten Verbündeten der Opposition. Ein Freiheitsrausch erfasste Osteuropa, die Mauer fiel und mit ihr brachen der Warschauer Pakt und die alte bipolare Weltordnung auseinander.

Sah sich Gorbatschow bis dahin noch als Herr, ja Initiator der Lage, begannen sich spätestens mit dem Mauerfall die Geister, die er gerufen hatte, gegen ihn selbst zu wenden. Abgesehen von einem Friedensnobelpreis 1990 und Care-Paketen aus Deutschland für die ökonomisch darbende Bevölkerung stellte sich keine Friedensdividende für die Sowjetunion ein. Gorbatschows Vision vom „gemeinsamen Haus Europa“ wurde mit dem Nato-Beitritt Ostdeutschlands beantwortet.

Der Druck in der Heimat wuchs. Wie Goethes Zauberlehrling fand sich Gorbatschow als Getriebener seiner eigenen Zaubersprüche wieder. Am Ende saß er zwischen allen Stühlen: Die Demokraten verdammten seine Zögerlichkeit, die Altkommunisten geißelten seine Reformbereitschaft. Und angefangen mit den Baltischen Staaten begann nun auch die Sowjetunion selbst zu erodieren. Anstatt zu neuer Größe emporzuwachsen, brach auseinander, was nicht zusammengehörte. Gorbatschow, der südrussisch-bäuerliche Gutmensch, wurde wider Willen vom Reformer zum größten Revolutionär aller Zeiten.

Das eigentliche Wunder und Gorbatschows wichtigster Verdienst ist, dass er sich so lange an der Macht hielt, bis das Rad der Freiheit nicht mehr zurückgedreht werden konnte. Als sich am 19. August 1991 doch noch eine kommunistische Putschisten-Clique fand, war es sogar für eine „chinesische Lösung“ in Russland längst zu spät. Der „Aufstand alter Männer“ brach kläglich zusammen.

Am 25.Dezember verabschiedete sich der von Boris Jelzin entmachtete Michail Sergejewitsch Gorbatschow in einer Fernsehansprache als letzter Präsident der Sowjetunion mit einer Bilanz seiner Arbeit: „Das totalitäre System, das unserem Land über lange Zeit die Möglichkeit geraubt hat, aufzublühen und zu gedeihen, ist vernichtet worden. Auf dem Weg demokratischer Umgestaltung wurde ein Durchbruch erzielt.“ Auf der Habenseite verbuchte er: freie Wahlen, Redefreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Mehrparteiensystem, Abgabe von Land in Privatbesitz, Privateigentum in der Wirtschaft, Aktiengesellschaften, Ende des Kalten Krieges, Abrüstung, Respektierung der Souveränität anderer Staaten. Am Ende dieser Aufzählung jedoch stand eine bittere Erkenntnis: „Das alte System war eingestürzt, bevor das neue funktionierte.“

Für Millionen Menschen begann am 11. März vor 20 Jahren der Weg in die Freiheit. Für Millionen ist der Tag aber auch gleichbedeutend mit einer langen Phase wirtschaftlicher und privater Unsicherheit. Der Sturm der Veränderungen, der dank Gorbatschow mit einem Mal über Osteuropa ja die Welt hinwegraste, hat viele Menschen haltlos zurückgelassen. So ist erklärbar, warum die Gorbatschow-Zeit in Russland als „Ära des nationalen Niedergangs“ gilt und die Breschnew-Ära als „gute alte Zeit“ verklärt wird, und warum Wladimir Putin mit seinem restauratives Programm der „gelenkten Demokratie“ so populär ist.

Und Gorbatschow? Der unterstützte Putin lange als neuen Garanten für Stabilität und als glücklichen Vollender der Perestrojka. Erst in jüngster Zeit wächst auch bei Gorbatschow, den Putin wegen seiner ungebrochenen Beliebtheit in Deutschland zum Beauftragten für den deutsch-russischen Dialog ernannte, die Angst vor einem Rückfall in den Totalitarismus: „Mich beunruhigt und beschäftigt dieses Thema sehr, weil ich einen Großteil meines Lebens der Demokratisierung gewidmet habe“, sagte er vergangenen Monat der „Nesawissimaja Gaseta“.

Ende 

Andreas Metz


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