Und ewig lockt das Haff
Kaliningrad (n-ost) - Ein klammer Westwind fegt über das zugefrorene Kurische Haff. Er hat die trockene Festlandskälte vertrieben, und jetzt wird es gefährlich. Schon fängt es zu singen an, das Eis, kilometerlange Spannungsrisse splittern von Ufer zu Ufer, nur Sekunden dauert das, wo sich die gewaltigen Kräfte entladen, grummelt es wie ferner Kanonendonner. Die Angler müssen Nerven wie Drahtseile haben. Sie stapfen ungerührt hinaus, balancieren weit draußen auf dem endlos scheinenden Haff über riesige Eisschollen, die sich dort zu meterhohen Barrieren verkeilt haben.Warnungen der Behörden verhallen wie üblich ungehört. Eisangeln, das ist in der Ostsee-Exklave Kaliningrad, der Region um das frühere Königsberg, ein Nationalsport, und es hat ziemlich viel von Russisch Roulette.
„Man muss nur wissen, wie weit man gehen kann“, sagt einer, der sich Kostja nennt und dies anscheinend weiß; das Eisloch jedenfalls, vor dem er hockt wie erstarrt, ist gut anderthalb Kilometer vom Ufer entfernt. „Wer hier draußen fischt, kennt das Eis. Wer sich nicht auskennt und trotzdem raus geht und dann einbricht, ist selber schuld.“
Im Sommer wirft Kostja in der Fischereigenossenschaft Saliwino Netze aus. Saliwino ist ein winziges Nest direkt am Haff, 50 Kilometer nordöstlich von Kaliningrad. Schon früher, als dieser Landstrich noch ein Teil Ostpreußens war und Saliwino Labagienen hieß, lebten dort alle vom Fischen. Im Sommer vom Kahn aus, im Winter eben auf dem Eis. Wenn es hielt. Das ist so geblieben. Außerhalb der Saison muss in Saliwnoje jeder sehen, wo er bleibt. Die wenigen Kutter, die die Genossenschaft überhaupt noch in Betrieb hat, liegen eingefroren oder an Land.
An jedem Winterwochenende erlebt die Haffküste von Saliwino bis hoch nach Polessk eine regelrechte Invasion. Bei Polessk, dem einstigen Labiau, fließen die Dejma und der Friedrichsgraben zusammen. Fisch gibts hier besonders reichlich. Sobald das Eis halbwegs trägt, und aus Sicht jagdhungriger russischer Eisangler trägt es verdammt früh, fallen sie hier ein, aus allen Ecken des Kaliningrader Gebietes. Die ersten fischen schon vor Sonnenaufgang, am späten Vormittag stehen Hunderte auf dem Eis der Dejma, von der alten Adlerbrücke bis weit hinaus aufs Haff. Dass sich an vielen Stellen offenes Wasser kräuselt, was solls? Zehn Schritte weiter bohren die ersten seelenruhig ihre „Lunka“, wie das kleine Eisloch auf russisch heißt.
Auf dem Eis sind alle gleich. Da steht der Lehrer neben dem Taxifahrer, der Vizegouverneur neben dem arbeitslosen Kolchosnik, die einen fischen aus Passion, die anderen für den Kochtopf. Gegen die Kälte beim stundenlangen Warten hilft Tschaj, schwarzer Tee aus der Thermoskanne, dampfendheiß und fast immer mit Wodka verdünnt. Frauen sind fast keine zu sehen. Eisangeln ist Männersport. „Die meisten wollen doch einfach mal Ruhe vor ihrer Alten haben, darum kommen sie alle her“, brummt einer, der in tarngefleckter Wattejacke auf einer verbeulten Alukiste hockt und einen fetten Barsch nach dem anderen aus seiner Lunka zuppt. Plötze, Schleie, Zander, mitgenommen wird alles, selbst noch die winzigsten Stinte. Auch Koschka, das Kätzchen, soll zu Hause etwas von dem Fischzug haben. Fischereiaufsicht gibts nicht, also auch keine Untergröße.
Die Polessker Miliz in ihrer Station an der Adlerbrücke achtet auf so etwas nicht. Die Polizisten haben andere Sorgen, würden das morsche Eis am liebsten sperren. Aber gegen die allwöchentliche Völkerwanderung ist kein Kraut gewachsen. „Die Kerle sind verrückt. Nachmittags ist die Hälfte besoffen. Wenn dann wieder welche einbrechen, ist das Geschrei groß“, schimpft einer der Polizisten. „Aber dann sollen sie sehen, wie sie rauskommen.“
Kein Winter vergeht, ohne dass das Eisangeln am Kurischen Haff seine Opfer fordert. Meist passiert es im zeitigen Frühling, wenn sich die Männer immer noch weit draußen bis an an den Eisrand vortasten, während die Sonne das Flachwasser wärmt. So war es auch am 13. März 1994, als sich bei ablandigem Wind eine riesige, fast einen Kilometer lange Eisstück vom Ufer löste und mit über hundert Anglern auf das Haff hinaus trieb. Als die Männer es merkten, war es schon zu spät. Bald dämmerte es, während die Scholle bei auffrischendem Wind in immer kleinere Stücke zerbrach. Die Rettungskräfte setzten Hubschrauber ein, doch sie hatten keine Chance. Das Haff ist dreimal so groß wie der Bodensee. 51 Männer ertranken.
An diese Katastrophe erinnert heute noch ein Gedenkstein nahe des Haffdorfs Kaschirskoje. Vor dem Mahnmal, einer schwarzen Granitplatte in Form einer zerborstenen Scholle, liegen fast immer frische Blumen. Doch dahinter lockt das Haff. Und das ist stärker als die Angst.
Ende
Thoralf Plath