Russland

Massenmord an der Bernsteinküste

In der Nacht zum 31. Januar vor 60 Jahren geschieht auf der Ostsee die vermutlich opferreichste Schiffskatastrophe aller Zeiten. Spätestens seit Nobelpreisträger Günter Grass den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ zum Thema seiner Novelle „Im Krebsgang“ gemacht hat, weiß die Welt von dieser deutschen Tragödie. Akribisch schildert Grass, wie das russische U-Boot S 13 den Dampfer umkreist und mit drei Torpedos in der eiskalten Ostsee versinken lässt.

Rund 9.000 Flüchtlinge finden dabei den Tod. Nichts weiß die Welt von einem anderen Massaker, das sich nahezu gleichzeitig an einem anderen Abschnitt der Ostseeküste abspielt, das die Tragödie der „Gustloff“ wenn auch nicht verständlich, so doch erklärbar macht und einordnet. Im ostpreußischen Palmnicken werden 6.000 bis 7.000 jüdische KZ-Häftlinge ermordet. Nicht mit drei Torpedoschüssen. Die Häftlinge werden von SS-Einheiten nachts aufs Eis der Ostsee getrieben und einzeln exekutiert. Palmnicken liegt heute in der russischen Ostsee-Enklave Kaliningrad. Den Ort hat man vor 58 Jahren in Jantarnij umbenannt. Jantar ist das russische Wort für Bernstein. Einst floss hier ein breiter Urstrom in ein urzeitliches Meer. Er führte das Harz riesiger Nadelwälder mit sich, das in seinem Delta abgelagert wurde, wo es unter Sandschichten versteinerte. 94 Prozent der Weltvorkommen an Bernstein werden in Jantarnij gefördert. Jährlich werden 700 bis 800 Tonnen aus dem Sand gewaschen, für 300 Jahre soll der Vorrat noch reichen. Große Bagger zerpflügen den Strand, hoch türmt sich der Abraum auf, schottet Jantarnij von der Ostsee ab. Eine unwirtliche Kraterlandschaft. Der Wohlstand wohnt anderswo.

Es ist ein bisschen wie mit dem Elfenbein. Das Geschäft machen andere, zurück bleibt totes, blutendes Land. Im Winter des Jahres 1945 wird der Bernstein zum Fluch des Ortes: Dass das größte Verbrechen der Nazi-Zeit auf ostpreußischem Boden in Palmnicken stattfindet, liegt an den Bernsteingruben, in denen Tausende Menschen verschwinden sollten – so das Kalkül der SS. Fast 50 Jahre lang sprach niemand über das Geschehen. Palmnicken wurde russisch und Sperrgebiet, deutsche Einwohner, die den Krieg überlebt hatten, wurden vertrieben, die Körper der Ermordeten verschluckte der Dünensand. Erst 1994 hat der Palmnicker Martin Bergau in einem Erinnerungsbuch die Ereignisse ans Licht geholt, die er als 16-jähriger Hitlerjunge miterleben musste. Auf Bergaus Bericht hin meldeten sich weitere Zeugen und Überlebende des Massakers. Zusammen mit dem Journalisten Reinhard Henkys sichtete Bergau Akten in Russland und in Yad Vashem. Beiden ist es zu verdanken, dass das grausame Geschehen nunmehr in Grundzügen dokumentiert ist.

Die Tragödie beginnt am 12. Januar 1945 mit der Offensive der Roten Armee in Ostpreußen. Eilends werden jüdische Häftlinge aus dem KZ Stutthof vor den heranrückenden Truppen in den Königsberger Kessel verlegt und in einem Lager am Nordbahnhof zusammengepfercht. Die Jüdin Fryda Gabrylewicz, eine von vielleicht 15 Überlebenden, spricht von 6000 Frauen aus Ungarn, der Ukraine und Polen, sowie von mehr als 1500 Männern aus dem litauischen Vilnius. Am 26. Januar 1945 treibt man die nur leicht bekleideten Gefangenen bei Eiseskälte zum Sterben nach Palmnicken. Schon auf dem Weg werden Tausende entlang der Straße von knapp 25 deutschen SS-Männern und 125 Angehörigen der Organisation „Todt“, darunter Litauer, Ukrainer, Letten, Esten, Belgier und Franzosen, erschossen. Deutsche Augenzeugen berichten, dass die Straßen von toten Körpern übersät waren. „Wir gingen in 5er-Reihen, einer von uns wurde schlecht, wir wollten sie retten, sie wollte sich hinlegen. Ein Posten hat das bemerkt, sie herausgeholt und erschossen“, erinnert sich Fryda Gabrylewicz. Palmnicken gerät zum Zielort des Todesmarsches wegen des Bernsteins, wegen stillgelegter Stollen, wegen der Grube Anna, in die die verbliebenen Zwangsarbeiter lebendig eingemauert werden sollen.

Viele Palmnicker sehen das unmenschliche Wüten der SS. Einige versuchen sogar die Mordmaschine aufzuhalten. Es werden geflüchtete, entkräftete Jüdinnen, hinter denen Hitlerjungen und Volkssturmeinheiten her sind, im Ort versteckt, so hat es Reinhard Henkys herausgefunden. Und Verantwortliche des Bernsteinwerkes sollen die Freigabe von Stollen für den Massenmord verweigert und die Überlebenden des Todesmarsches einige Tage in der Schlosserei des Bernsteinwerkes mit Brot und Wasser versorgt haben. Doch in einer Nacht zwischen dem 30. Januar und dem 2. Februar - das genaue Datum ist strittig - werden die KZ-Häftlinge von der SS an die Bernsteinküste geführt, unter dem Vorwand, nach Süden nach Pillau und dort auf ein Schiff nach Hamburg gebracht zu werden.

Eine Gruppe erschießt man an der Steilküste des wenige Kilometer weiter südlich gelegenen Ortes Sorgenau. Eine andere Gruppe, in der sich auch Fryda Gabrylewicz befindet, führt man direkt bei Palmnicken an den Strand. Dort werden die halb erfrorenen Häftlinge auf Kleingruppen von 40-50 Personen aufgeteilt. Wie sich die Zeugin erinnert, werden Männer von den Frauen getrennt. „Wir bemerkten, dass wir aufs Meer geführt wurden. Das Eis war so dünn, dass es unter unseren Füßen einbrach. Die 40 Leute mussten sich zu einem Kreis hinlegen. Sie sind langsam gegangen, es waren vier oder fünf. Sie kamen zu jeder Frau und haben geschossen. Ich lag mit dem Kopf nach unten. Ich hörte sie weinen, eine Leiche lag halb auf mir. Ich habe gefühlt, dass etwas Warmes über mein Gesicht fließt. Das war Blut.“ Wenige Stunden vor diesen grausamen Ereignissen versinkt in 100 Seemeilen Entfernung die torpedierte „Wilhelm Gustloff“ auf der Höhe Stolp-Münde. An beiden Ostseeabschnitten spült die Flut später Hunderte von Leichen an den Strand.

Russische Truppen, die im April 1945 Palmnicken einnehmen, zwingen die Bevölkerung, Massengräber für die Toten auszuheben. Es gibt erste Ermittlungen, auch auf deutscher Seite. Ein Hauptverantwortlicher für den Massenmord an der Bernsteinküste nimmt sich das Leben, bevor ein Urteil vollstreckt werden kann. Anderen gelingt es, sich ihr ganzes Leben lang zu verstecken. Erst im Jahre 2000 - die russische Enklave ist endlich wieder für Deutsche zugänglich - wird auf Initiative von Martin Bergau ein Gedenkstein für die jüdischen Opfer in Jantarnij errichtet. Schriftsteller, die das Geschehen in eine Novelle kleiden, oder Regisseure, die es verfilmen, gibt es bislang nicht. Immerhin fand am 31. Januar in Jantarnij anlässlich des 60. Jahrestages des Massakers eine Gedenkveranstaltung statt, an der neben dem Gouverneur des Kaliningrader Gebietes, Wladimir Jegorow, und dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Kaliningrad, David Schwedik, auch der Deutsche Generalkonsul Cornelius Sommer teilnahm.


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