Stereoscope

Ein Instrument namens Erinnerung

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1. Russland: Sowjetisch, wohin man sieht

von Sergej Lebedev

Russland heißt bereits seit mehr als 25 Jahren Russland. Die Bürger Russlands leben aber zum Großteil in sowjetischen Häusern, sehen auf den Straßen sowjetische Denkmäler, schauen sowjetische Filme und leben in Grenzen, die die Sowjets gezeichnet haben. Dementsprechend ist die gesamte vielfältige Infrastruktur der Geschichtskultur in mehrerlei Hinsicht immer noch sowjetisch und beide Wörter – Geschichte und Kultur – sollten in diesem Fall in Anführungszeichen gesetzt werden.

Das verbrecherische und korrupte Regime Vladimir Putins existiert heute wie auf Kredit, der die Zukunft Russlands auffrisst, ja vernichtet. Dieses Regime hat weder ein Entwicklungsprojekt noch eine fortschrittliche Vision für das Land. In dieser Situation wird die Sakralisierung der Vergangenheit zur wichtigsten Legitimationsressource des Regimes; die Idee einer historischen Mission, die sich in der Existenz des russischen Staates selbst ausdrückt, eine Mission, die angeblich so bedeutend ist, dass es möglich und notwendig ist, für sie die individuellen Rechte zu opfern.

Folglich ist das wichtigste Narrativ der staatlichen Erinnerungspolitik heute erneut ein historischer Messianismus des Staates, des Reiches, der seinen Höhepunkt in der Zeit der UdSSR hat und sich im Sieg im Zweiten Weltkrieg ausdrückt. Gerade der Krieg und der Sieg (hinter dem die Figur Stalins steht) sind die integralen Elemente dieses Narratives, welches die Welt in das Eigene und das Fremde teilt und welches dem deutschen „Nie wieder“ seinen zu einem Meme ausgearteten und an Autos klebenden Slogan „Wir können das wiederholen“ entgegensetzt.

Sergej Lebedev ist Journalist und Schriftsteller. Auf Deutsch wurden seine Romane «Der Himmel auf ihren Schultern» (2013) und «Menschen im August» (2015) im S. Fischer Verlag veröffentlicht. 


2. Ukraine: Suche nach Dialog

von Vira Baldyniuk

Der Prozess der spontanen Entkommunisierung in der Ukraine begann im Dezember 2013, als die Demonstranten während der Proteste das Lenindenkmal in Kiew gestürzt haben. Der nach der Revolution der Würde folgende sogenannte „Leninopa“ („Leninfall“) besiegelte dann den verspäteten Revisionsprozess der historischen Vergangenheit in der Ukraine. In den ersten Jahren nach der Revolution begann die Gesellschaft nach einer zeitgemäßen Sprache zu suchen, um die traumatische Erfahrung des Maidan und des Krieges und somit die historische Vergangenheit insgesamt zu verarbeiten. 

Bevor aber die Suche nach einem öffentlichen Konsens über die Erinnerungspolitik abgeschlossen war, übernahm ein neues Staatsorgan – das Ukrainian Institute of National Remembrance – die Aufgabe, einen Entwurf eines offiziellen historischen Narratives zu erstellen. Es wurde erwartet, dass das Institut mit seinem soliden Staatshaushalt zu einer Dialogplattform werden und vor allem eine äußerst wichtige Aufgabe bewältigen würde: ein nationales Archiv zu schaffen. Es erlangte jedoch sehr schnell den Ruf eines Organs für den „Kampf gegen Denkmäler“.

Besonders schädlich waren die Initiativen des Instituts zum Thema Erinnerung in Städten mit einer komplexen historischen und sprachlichen Identität. Ebenso brisant ist die Frage der Heroisierung und Militarisierung der Gesellschaft während des Kriegs. Auf der Tagesordnung der offiziellen Ukraine steht die Gegenpropaganda (zunächst unter ungleichen Bedingungen), die Entlarvung der historischen Verbrechen des kaiserlichen Russlands, das gegenseitige „Aufkratzen“ historischer Wunden mit Polen sowie die Aufzählung entweihter Gräber auf beiden Seiten. Diese Zuspitzung kann als ein Krieg der Erinnerungen bezeichnet werden, in dem es ganz offensichtlich keine Gewinner geben kann.

Es gibt in der Ukraine aber auch alternative Institute, Forschungszentren, zivilgesellschaftliche Initiativen und Medien, die die Idee einer einzigen heroischen offiziellen Geschichtsschreibung kritisieren – das Center for Urban History (Lviv), das Nationale Kunstmuseum der Ukraine (Kiew), das Visual Culture Research Center (Kiew) und andere. Sie führen und entwickeln einen Diskurs über vielfältige Erinnerung und über die Inklusion verschiedener historischer Erfahrungen und kritisieren die im Wesentlichen prosowjetischen Methoden der Regierung. 

Vira Baldyniuk ist Chefredakteurin der ukrainischen Online-Kulturzeitschrift "Korydor".


3. Belarus: Eine Geschichte von Staat und Macht

von Aleksej Bratochkin

Im Zentrum der staatlichen Erinnerungspolitik in Belarus steht das noch während der UdSSR entstandene und nur wenig veränderte historische Narrativ über den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. In den offiziellen Versionen der Geschichte geht es dabei nicht um die Gesellschaft, sondern um die Geschichte des Staates, der Macht. Änderungen in der Erinnerungspolitik und im öffentlichen Diskurs sind durch die folgenden Faktoren beeinflusst: 1) die Annexion der Krim und die Politik des Putinschen Russland, 2) den Rechtsruck in einer Reihe europäischer Länder, unter anderem in Polen, 3) die Politik der Entkommunisierung in der Ukraine. 

Das belarussische Regime versucht heute, die Konflikte in der Erinnerungskultur der 1990er Jahre zu überwinden. Die offizielle Politik bietet nun zum Beispiel eine eigene Version der Memoralisierung der Erinnerung an die stalinistischen Repressionen an, mit dem Ziel, das Thema der Opposition nicht zu überlassen. Dies geschieht, um vor dem Hintergrund der russischen Soft Power-Politik den Eindruck einer einheitlichen Gesellschaft in Belarus zu erwecken. Im öffentlichen Diskurs finden sich zudem Hinweise auf einen möglichen Krieg der Erinnerungen mit dem Nachbarland Polen.

Eines der Streitbeispiele ist die Heroisierung der Figur des verfluchten Soldaten Romuald Rajs durch die rechtsradikalen Kräfte in Polen, der in Belarus als Mörder der belarussischen Bevölkerung Podlachiens im Jahr 1946 gilt. Die rechte Regierung Polens bietet heute ihre eigene Interpretation der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, indem sie die Interessen der in Polen lebenden Belarussen beeinflusst.

Die aktuell jüngste Episode ist die Kontroverse über eine Figur der Zwischenkriegszeit, Bronislav Taraškević, der in Polen einfach nur als Kommunist abgetan wird und dessen Name aus dem öffentlichen Raum entfernt werden soll, während er für die Belarussen (in Polen und Belarus) jemand ist, der als linker Politiker während der Zweiten Polnischen Republik für die nationalen Interessen der Belarussen kämpfte.

Die ukrainische Entkommunisierung hat die belarussischen Diskussionen über das sowjetische Erbe erheblich beeinflusst. Diese Diskussionen finden jedoch meist in unabhängigen Medien und auf unabhängigen öffentlichen Veranstaltungen statt.

Aleksej Bratochkin ist Historiker und Leiter des Programms Public History am European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB).


4. Polen: Genug mit der Pädagogik der Scham

von Ludwika Wlodek

2012 sagte Jarosław Kaczyński, der zu diesem Zeitpunkt noch in der Opposition war: Genug mit der Pädagogik der Scham, genug mit der ständigen Sühne unserer Nation für Gott weiß was.  Dies war seine Reaktion auf Barack Obamas Versprecher über „polnische“ Konzentrationslager. Laut Kaczyński treten Fehler dieser Art oder sogar absichtliche Tatsachenverdrehungen auf, weil die polnischen Eliten sich mit dem Analysieren und Eingestehen polnischer Schuld beschäftigen, statt zu betonen, dass Polen Opfer der nationalsozialistischen und stalinistischen Aggression gewesen war. Infolgedessen, so glaubt der PiS-Vorsitzende, sind die Polen über ihr Polnisch-Sein beschämt – statt stolz darauf zu sein.

Von dem Moment an, an dem Kaczyńskis Partei die Wahl 2015 gewann, wurde die offizielle Geschichtsschreibung dahin gehend verändert, dass sie nur noch unseren eigenen polnischen Standpunkt reflektiert. Die Zeiten, in denen man sich um die Empfindlichkeiten von Minderheiten und Nachbarn oder der Meinung des Westens sorgte, sind vorbei.

Das anschaulichste Beispiel dieser Politik war die Kontroverse um das Museum des Zweiten Weltkriegs. Es wurde auf Initiative des Historikers Paweł Machcewicz gebaut, der von Premierminister Donald Tusk unterstützt wurde. Die Ausstellungen wurden im Laufe von acht Jahren vorbereitet. Das Gebäude des Museums wurde in Gdansk von Grund auf neu gebaut.

Viele prominente polnische Historiker, aber auch wohlbekannte Historiker aus aller Welt, unter anderem Norman Davies und Timothy Snyder, beteiligten sich daran. Doch noch bevor das Museum seine Türen öffnete, wurde es von der PiS Regierung kritisiert. Der Kulturminister, der die Ausstellung noch nicht einmal gesehen hatte, lies verlauten, dass er sie nicht mochte, weil sie den polnischen Blick zu wenig zeigte.

Die ersten Besucher betraten das Museum im Frühling 2017. Weniger als einen Monat später wurde Machcewicz seines Postens als Museumsdirektor enthoben und bald danach begann ein neuer Direktor die Ausstellung zu verändern. Er entledigte sich zum Beispiel eines Films, der die schrecklichen Kosten von Kriegen im Allgemeinen und nicht nur die des Zweiten Weltkriegs thematisierte. Seiner Meinung nach betonte die von Machcewisczs Team vorbereitete Ausstellung zu wenig den Heroismus der polnischen Kämpfer und zeigte nicht, dass Krieg auch eine schöne Erfahrung sein kann.

Ludwika Wlodek ist Sozialwissenschaftlerin und freie Journalistin. Sie schreibt für "Harper's Bazaar", "Polityka","Nowa Europa Wschodnia" and "National Geographic".


5. Ungarn: Die permanente Opferrolle

von Adam Kolozsi

Der beste Weg, um einen ersten Eindruck von der kakophonen ungarischen Erinnerungspolitik zu bekommen, ist, auf den zentralen Budapester Platz Szabadság tér zu schauen. Hier saß einst der staatliche nationale Propagandasender; außerdem ist er häufig Schauplatz für politische Kämpfe und Demonstrationen. Im Zentrum des Platzes sieht man einen großen roten Stern auf einem sowjetischen Weltkriegsdenkmal: ein laut ungarischem Gesetz verbotenes Symbol, das hier aber von allen Regierungen seit 1990, inklusive Fidesz, der rechten Partei mit ihrem Mix aus antikommunistischer Rhetorik und freundlichen Gesten in Richtung Putins Russland, toleriert wird.

Hundert Meter entfernt von diesem kommunistischen Symbol hat Fidesz vor kurzem ein neues Denkmal gebaut – einen brandneuen Erinnerungsort für die Opfer der deutschen Besatzung Ungarns im Jahr 1944: einen deutschen Adler, den Reichsadler, der die vom Erzengel Gabriel beschützten ungarischen Herrschaftsinsignien angreift. Diese Statue kann man als Symbol von Fidesz' kontroverser Erinnerungspolitik sehen: pseudo-historisch, kitschig und traumatisch. Dadurch, dass sie jegliche Eigenverantwortung ablehnt, passt sie perfekt zum nationalen Selbstbild der permanenten Opferrolle; die Täter sind immer die Anderen. Dieses Narrativ ist mittlerweile sogar in der Verfassung niedergeschrieben: Da Ungarn zwischen 1944 und 1990 seine nationale Souveränität verloren hätte, seien all die Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht Teil der ungarischen Geschichte.

Indem eine Reihe neuer Erinnerungseinrichtungen geschaffen werden, Geschichtsbücher umgeschrieben und öffentliche Orte umbenannt werden, wirken die ungarischen Erinnerungskriege wie ein bizarrer Disput zwischen verschiedenen Traumata der Holocaust (mehr als 500.000 Opfer des ungarischen Judentums) vs. Trianon (der Verlust von zwei Dritteln des Territoriums des alten Ungarns im Jahr 1920), dann Kommunismus. Manche würden sagen, dass die ungarische Erinnerungspolitik eher einer selektiven Politik einer erzwungenen Amnesie und einer instrumentalisierten Trauma-Manipulation ähnelt. Natürlich gibt es auch Alternativen: Vor dem Nazi-Denkmal ist ein spontanes, Graswurzel-Anti-Denkmal aus Kerzen, Steinen, Nachrichten und Familienerinnerungen entstanden – ein einzigartiger Ausdruck persönlicher Erinnerung an den Holocaust sowie ein kultureller Widerstand gegen die politische Inbesitznahme der Vergangenheit.

Adam Kolozsi ist Anthropologe und Journalist bei der führenden ungarischen Nachrichtenseite index.hu. 



Übersetzt aus dem Russischen und Englischen von Sabine Roßmann.

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