Russland

An der Wurzel

Am Anfang ging es um gefällte Eichen. Sie hatten alles überdauert: die Russische Revolution, den Zweiten Weltkrieg, die Wende. Ein seltenes Symbol der Beständigkeit in der russischen Geschichte, die so reich an Brüchen ist. Doch die Moskauer Baupolitik brachte sie schließlich zu Fall. In nur einer Nacht. „Wer fällt schon Bäume in der Nacht?“, schnaubt Dmitrij Bojnow. „Doch nur Verbrecher!“

Die Aktivisten rund um Bojnow, einen Mittvierziger im dunklen Parka, haben 6.000 Unterschriften gesammelt. Sie wollten die alten Bäume im Dubki-Park im Norden Moskaus erhalten. Vergebens. Baulärm dröhnt, ein Kran schwebt über dem Gerüst. Im Internet werden die „Wohnungen mit Ausblick“ bereits angepriesen, die hier bis 2018 entstehen sollen.

Von Politik wollten die Bürger, die sich zum Schutz des Parks versammelten, zunächst überhaupt nichts wissen. Doch je aktiver sie wurden, desto stärker bekamen sie die harte Hand des Staates zu spüren. Die Proteste wurden von Sicherheitsleuten und der Polizei brutal aufgelöst. Zugleich drangen die Aktivisten immer tiefer in das korrupte Netz der Moskauer Baupolitik ein. Mittlerweile hat sich schon „Transparency International“ mit dem Bauprojekt beschäftigt.


Rechte einfordern

Was als apolitischer Protest beginnt, wird im repressiven Umfeld zunehmend politisiert, glaubt Jewgenija Tschirikowa. „Die Aktivisten merken, wie wichtig unabhängige Institutionen wie Gerichte oder Wahlen sind, um ihre Rechte zu verteidigen“, so Tschirikowa, die die Plattform „activatica.org“ leitet. „Sie hören auf, an die Propaganda zu glauben, weil sie selbst Opfer der Propaganda werden.“ In den staatsnahen Medien wurden die Aktivisten schon als Nationalverräter verleumdet.

Da Russland in einer Wirtschaftskrise steckt, werden Proteste dieser Art weiter zunehmen, glauben Experten – unter ihnen die Politologin Jekaterina Schulmann. Ihre These: Weil der russische Staat sich zukünftig verstärkt über die Steuern der Bürger werde finanzieren müssen, statt über Rohstoffeinnahmen, würden die Bürger auch mehr Bewusstsein für den Staat entwickeln. Und bürgerliche Rechte – wie das Recht auf Protest – stärker einfordern.

Der Widerstand entlädt sich freilich nicht gegen den Präsidenten Wladimir Putin wie bei den Winterprotesten 2011/12. Sondern in lokalen Aktionen, Umweltdemos sowie Streiks. Wie vor einem Jahr, als LKW-Fahrer landesweit gegen hohe Mautgebühren protestierten. Oder im Sommer, als Bauern in Südrussland mit einem Protestmarsch bis nach Moskau drohten, um staatsnahe Agroholdings zu stoppen.

Auch Grigorij Sergejews Tätigkeit ist Ausdruck dieses Wandels. Seine Organisation kümmert sich um die Suche nach vermissten Menschen. 30 Vermisstenmeldungen bekommt er täglich, allein aus dem Moskauer Gebiet. „Am Abend machen sich die Angehörigen besonders viele Sorgen, wenn die Kinder nicht nach Hause kommen“, erklärt Sergejew.


Weg vom Versorgungsstaat

Begonnen hat alles vor sechs Jahren. Damals war ein Mädchen namens Liza verschwunden, der Suchaufruf wurde über die sozialen Medien verbreitet. Sergejew durchkämmte mit hunderten anderen Freiwilligen die Wälder im Moskauer Umland, um Liza zu finden. Als sie sie am zehnten Tag entdeckten, kam jede Hilfe zu spät. Sie war bereits erfroren.

Dass sich keine der offiziellen Stellen für die Suche zuständig fühlte, hatte Sergejew damals geschockt. So hat er selbst begonnen, Suchtrupps zu organisieren. Seine Organisation „Liza Alert“, benannt nach dem verschwundenen Mädchen, arbeitet heute russlandweit und kooperiert mit der Polizei und den Ministerien. Die Regierung hat sogar den Aufbau eines Suchzentrums in ihr Programm aufgenommen. Wenn man so will, hat Sergejew den russischen Staat – zumindest ein wenig – verändert.

Sind die Graswurzelbewegungen also ein Weg, den Staat, der die Zivilgesellschaft mit repressiven Gesetzen gängelt, quasi von unten umzubauen? Die russische Schriftstellerin Olga Sedakowa sieht in Projekten wie „Liza Alert“ einen Wandel, um sich vom Versorgungsstaat zu emanzipieren. „Immerhin ist es viel bedeutender, wenn jemand ein Kind ohne die Hilfe des Staates rettet, als einfach nur mit einem Plakat auf die Straße zu gehen.“

Im Moskauer Dubki-Park kämpfen die Aktivisten derweil weiter. Denn inzwischen geht es nicht mehr nur um die Bäume, sondern um den Widerstand gegen die Moskauer Baupolitik. Nach dem Widmungsplan dürfte hier überhaupt nur eine Schule oder ein Kindergarten gebaut werden, und nicht der geplante private Komplex mit mehr als 300 Wohneinheiten. Mit ihrer Klage sind sie bisher in allen Instanzen abgeblitzt. Doch sie haben sich mit anderen Umweltdemonstranten solidarisiert. „Wenn uns die Politik ignoriert, dann werden wir einfach immer aktiver werden“, sagt Natalja, eine 62-jährige Rentnerin. „Und immer mehr!“

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Quellen:

Persönliche Treffen in Moskau im September 2016

Homepage „Liza Alert“
http://lizaalert.org

Homepage „Retten wir den Park Dubki!“
http://lizaalert.org

Gespräche mit Experten

Interview Olga Sedakowa
Interview in New Eastern Europa
http://www.neweasterneurope.eu/component/content/article/1014-issue/2102-issue-5-2016


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