Opposition auf verlorenem Posten
Ilja Jaschin spricht leise, aber schnell. Immer wieder mustert er die Gäste, die in das Café kommen und klopft mit seinen Fingern auf den Tisch. Wer in Russland Oppositionspolitik betreibt, hat allen Grund, nervös zu sein – wenngleich das Moskauer Innenstadcafé ein Treffpunkt für Kreml-Gegner ist. An der Wand hängt ein Bild mit fünf Buchstaben: Boris. Eine Hommage an Boris Nemzow, den Gründer der Partei der Volksfreiheit („Parnas“), der im Februar 2015 wenige Schritte vom Moskauer Kreml entfernt erschossen wurde.
Der 33-jährige Jaschin, stellvertretender Vorsitzender der Parnas-Partei, hat das politische Erbe Nemzows übernommen. Doch es ist genau dieses Erbe, das zu zerfallen droht: Vor wenigen Wochen ist Jaschin aus der „Demokratischen Koalition“ ausgetreten, einem Bündnis jener Parteien und Gruppen, die in Abgrenzung zu Kreml-treuen Parteien als „nicht-systemische Opposition“ bezeichnet werden. Stein des Anstoßes: Die Weigerung des Parnas-Vorsitzenden und Ex-Ministerpräsidenten Michail Kasjanow, sich den internen Vorwahlen zu stellen. Mit dem autoritären Stil des Parnas-Chefs habe die Partei ihre Glaubwürdigkeit als demokratische Alternative verspielt, so Jaschin: „Wenn wir schon Vorwahlen organisieren, dann zu gleichen Bedingungen für alle.“
Die Opposition kämpft vor den Parlamentswahlen am 18. September auf verlorenem Posten. Die im April 2015 geschlossene „Demokratische Koalition“ ist zerbrochen. Es war ein schwerer Schlag, dass auch Oppositions-Star Alexej Nawalny mit seiner „Fortschrittspartei“ das Bündnis verlassen hat. Der wiederholte Versuch, die Putin-Gegner auf einer Wahlliste zu vereinen, ist gescheitert.
„Hätte besser laufen können“
Dieselbe Straße, wenige Meter weiter. Der Parnas-Vorsitzende Kasjanow sitzt in seinem Büro. Erster Stock, eine große Leder-Couch, vor dem Fenster zieht der Moskauer Mittagsverkehr vorbei. Kasjanow ist zuletzt ins Kreuzfeuer der Kritik geraten: Unbekannte haben in seiner Wohnung eine Kamera installiert und ein Stelldichein mit einer Parteifreundin gefilmt. Dabei zieht Kasjanow über seine politischen Mitstreiter her. Das Video wurde auf einem Kreml-nahen Fernsehsender ausgestrahlt. Bei den internen Vorwahlen landeten zudem tausende Namen, E-Mailadressen und Telefonnummern von Wählern im Internet. Ein Hackerangriff, sagt Kasjanow. „Es hätte besser laufen können“, gibt er zu. „Aber es ist kein existenzieller Faktor, der unsere Pläne zerstört.“
Von einer Spaltung will der 58-Jährige nichts wissen. „Unser Ziel ist es, die Fünf-Prozent-Hürde zu überschreiten und als Fraktion in die Staatsduma einzuziehen“, sagt er. Er spricht von einem Potential von 12 bis 15 Prozent. In den 20 größten russischen Städten hätte die demokratische Opposition sechs Millionen potentielle Anhänger. „Wir müssen es schaffen, dass zumindest vier Millionen zu den Wahlen gehen.“
Die Umfragen sprechen derweil eine andere Sprache. Trotz Wirtschaftskrise ist die Politikverdrossenheit groß. Laut Umfrage des renommierten Lewada-Zentrums wollen überhaupt nur weniger als 50 Prozent der Russen zur Wahl gehen. 57 Prozent von ihnen würden für die Putin-Partei „Geeintes Russland“ stimmen, auf dem zweiten Platz kämen mit 15 Prozent die Kommunisten. Zudem würde die nationalistische „Liberaldemokratische Partei“ oder die Kreml-freundliche Partei „Gerechtes Russland“ in die Duma einziehen. Die Parnas-Partei kommt demnach auf nur zwei Prozent der Stimmen. Jabloko, eine Oppositionspartei, die separat antritt, bekäme einen Prozentpunkt. Dass eine der Oppositionsparteien die Fünf-Prozent-Hürde überspringt, gilt derzeit als ausgeschlossen.
„Die Propaganda ist sehr geschickt darin, von den Oppositionellen ein Bild aus Populisten, Abenteurern und Demagogen zu malen, die nur vom Westen gekauft sind“, sagt Lew Gudkow vom Lewada-Zentrum. „Die andere Seite ist die, dass die handelnden Akteure unfähig sind, eine Koalition zu bilden und ihre Konflikte untereinander beizulegen.“ Zugleich ist der Druck auf Oppositionspolitiker zuletzt massiv gestiegen: Sie werden immer wieder Opfer von Übergriffen, wie zuletzt in Stawropol, wo Kasjanow von einem gewalttätigen Mob attackiert wurde.
Jaschin hat inzwischen seine Strategie gewechselt. Am 30. August hat er in Moskau einen Bericht über die Korruption in der Putin-Partei „Einiges Russland“ veröffentlicht: die „Partei des kriminellen Russland“. „Wenn schon nicht die demokratische Opposition in der Duma vertreten sein wird, dann müssen wir zumindest versuchen, den Anteil von ‚Einiges Russland’ in der Duma zu verringern“, sagt er.
---------------
Quellen:
Persönliche Treffen mit Ilja Jaschin und Michail Kasjanow in Moskau
Interview mit Lewada-Direktor Lew Gudkow
Umfrage des Lewada-Zentrums
Vortrag Ilja Jaschin:
Attacke auf Kasjanow: