Gegen Raucher, fürs Vaterland
Die Rush-Hour ist schon angebrochen, ein Menschenstrom ergießt sich auf die Plätze rund um die Metro-Stationen von Moskau. Michail Lasutin gibt die letzten Anweisungen. „Wichtig ist, dass wir uns nur verteidigen“, sagt der bullige 20-Jährige mit der Trainingshose und dem Hipster-Bart. Mit Faustschlägen in die Luft zeigt er, wie der Gegner überwältigt werden kann. „Und nicht vergessen: Immer drei Kameras zugleich! Falls eine im Kampf kaputt geht.“
Es ist die Bewegung „Lew Protiw“, „Der Löwe ist dagegen“, eine Jugendgruppe gegen Rauchen und Trinken, die Lasutin vor zwei Jahren gegründet und nach seinem Sternzeichen benannt hat. Das russische Gesetz verbietet das Rauchen in der Nähe von öffentlichen Anlagen, etwa Metro-Eingängen. Das Trinken von Alkohol ist auf öffentlichen Plätzen generell verboten. Ein Gesetz, das von den „Löwen“ in so genannten „rejdi“ – Streifzügen – durchgesetzt wird. Später werden die besten Szenen in fünf- bis zehn-Minuten-Videos auf YouTube hochgeladen.
Jelena studiert im zweiten Studienjahr und ist seit einem Monat dabei. Seit Kurzem darf sie selber eine „Verwarnung“ machen, wie das direkte Ansprechen von Rauchern vor der Kamera im Löwen-Slang heißt. In der Hand hält sie eine Sprühdose, um widerspenstigen Rauchern mit Wasserspritzern gleich das Handwerk zu legen. Sie spricht von der Aktion, als wäre es ein Praktikum: „Ich bin hier, um wichtige Erfahrungen zu sammeln.“ Heute hat sie drei Jungs mit Handkameras im Schlepptau, zwei weitere leuchten die Szenen mit Scheinwerfern aus.
Kleiner Hooliganismus
Es dauert nicht lange, bis es zu den ersten Reibereien kommt. Ein Mann mit Lederjacke, sichtlich angetrunken, verwickelt die Jugendlichen in eine Diskussion. Er versucht immer wieder, die Kamera wegzuschlagen. „Haltet drauf!“, ruft Lasutin von der Seite hinein. Als die Lage zu eskalieren droht, holt Lasutin einen Polizisten. 1.500 Rubel Strafe für „kleinen Hooliganismus“, also öffentliches Fluchen. Lasutin nickt zufrieden. Das war ein guter Dreh.
„Lew Protiw“ ist mittlerweile zu einem Internet-Hit geworden. Auf YouTube werden die Videos zu Hunderttausenden, manchmal bis zu 2,5 Millionen Mal, geklickt. „Eine halbe Million Menschen stirbt jährlich in Russland an den Folgen von Alkoholismus, genauso viele am Rauchen“, sagt eine Stimme zu Beginn eines Videos aus dem Off. Dann der Titel: „Wieder hat das Böse gegen den Löwen verloren.“ Das Böse tritt diesmal in Gestalt zweier Männer auf, die in einer Unterführung Bier trinken. Der Rest läuft nach dem üblichen Drehbuch ab: Diskussionen, Pöbeleien, Schlägerei, Polizei, Verhaftung.
Dass Menschen mit Alkoholproblemen vor einem Millionenpublikum vorgeführt werden, hält Lasutin für pädagogisch sinnvoll: „70 bis 80 Prozent der Kriminalfälle in Russland passieren im alkoholisierten Zustand. Kinder und Jugendliche schauen unsere Videos an und verstehen, was richtig und was falsch ist.“ Dass viele Videos meist mit Gewaltszenen enden, scheint dem Konzept nicht im Weg zu stehen. Die Schlägereien werden dabei mit harten Crossover-Klängen, zum Beispiel mit Limp Bizkit unterlegt.
Bester Staat der Welt
Der Mastermind hinter Lew Protiw ist Dmitri Tschugunow, ein 29-jähriger Pädagoge aus Moskau. „Wenn ein Kampf unausweichlich ist, dann muss man als erster zuschlagen“, zitiert Tschugunow eine Stelle aus der autorisierten Biografie von Wladimir Putin – wenngleich er diesen Satz sogleich abwandelt: „Wenn uns jemand schlägt, dann haben wir das Recht, das zu erwidern.“ Tschugunow beschreibt das Projekt als eine Art Grass-Root-Bewegung, als Subkultur, entstanden aus dem „Wunsch und Streben heraus, die Welt zu verändern.“
Einem Wunsch, dem freilich nur nachkommen wird, wer innerhalb der Weltdeutung der Staatsmacht bleibt: Tschugunow selbst gilt als Kreml-nah – er ist Mitglied der „Gesellschaftskammer der Russischen Föderation“ und leitete bis zuletzt die Moskauer Abteilung der Pro-Putin-Jugendorganisation „Naschi“. Fotos zeigen ihn Seite an Seite mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. „Mit Naschi wollten wir unser Vaterland zum besten Staat der Welt machen. Projekte sind die Ziegelsteine, die zu diesem Ziel führen“, sagt er. Und „Lew Protiw“ ist so ein Projekt.
Dahingegen haben es aus dem Ausland finanzierte und Kreml-kritische NGOs in Russland immer schwerer. Die russische Justiz kann solche Hilfsorganisationen als „unerwünscht“ klassifizieren und somit praktisch verbieten. Kreml-treue Jugendorganisationen wie „Lew Protiw“ hingegen boomen mit staatlicher Unterstützung. Knapp 100.000 Euro wurden den „Löwen“ zuletzt aus dem präsidialen Fördertopf zugesprochen. Vor allem die Videos mit Gewaltszenen werden am meisten geklickt.
Mittlerweile gibt es die Gruppe in mehr als 50 russischen Städten. Ein lokaler Ableger in der sibirischen Stadt Krasnokamensk hat zuletzt ein völliges Rauch- und Trinkverbot für die gesamte Stadt gefordert. So weit will Lasutin in Moskau nicht gehen. Aber Visionen hat er dennoch: „Wir wollen, dass in einem Jahr unsere Aktivisten an jeder Moskauer Metrostation stehen. Jeden Tag.“
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Quellen:
Persönliche Gespräche, Besuch einer Aktion am 18. November 2015
Video zur Aktion vom 18. November
Youtube-Kanal von „Lew Protiw“
YouTube-Video – „Wieder hat das Böse gegen den Löwen verloren“
Massenschlägerei – mit Limp Bizkit unterlegt, Schlägerei v.a. ab 1:45