Die Gestrandeten

Manchmal geht Ahmed mehrere Tage nicht aus dem Haus. Dann verkriecht sich der Teenager in der Wohnung seiner Eltern. Nicht etwa, weil er Stress in der Schule hat – sondern aus Angst vor der Polizei.
Ahmed ist 17 Jahre alt und kommt aus der syrischen Stadt Aleppo. Als der Bürgerkrieg vor drei Jahren auch in seine Stadt kam, ist er mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Moskau geflohen. Zu seinem Bruder Sarim, der hier als Konditor arbeitet, und seinem Vater, der als Koch in Moskau lebt. Mit einem Jahresvisum in der Tasche hofften sie, den Bürgerkrieg hier, in der russischen Hauptstadt, aussitzen zu können. Aber es kam anders. Das Jahresvisum lief aus. Doch der Krieg ging weiter.
Mehrere Male haben Ahmed und seine Familie bei der russischen Migrationsbehörde FMS um Flüchtlingsstatus gebeten – vergeblich. Wie auch sein Schwager Shaadi, der neben ihm auf der Couch sitzt, mit den beiden Zwillingstöchtern im Arm. Sie kamen im Sommer auf die Welt. „Für die beiden Mädchen haben wir überhaupt keine Dokumente“, sagt Shaadi. „Nur die Dokumente aus dem Krankenhaus, dass die Kinder in Russland geboren sind.“
Russland will keine Syrischen Flüchtlinge
Seitdem die russische Luftwaffe Stellungen der Rebellen in Syrien bombardiert, wurde die Frage nach der Verantwortung in der Flüchtlingsfrage neu aufgeworfen. Doch die Lage der syrischen Flüchtlinge in Russland ist prekär, kritisieren Menschenrechtler: „Das Flüchtlingssystem in Russland erinnert an einen Wolkenkratzer, der nur auf einer Etage bewohnt ist“, sagt Jelena Burtina, die zuletzt in Moskau ein Buch zur Situation von Flüchtlingen in Russland präsentierte. „Um in das Gebäude zu kommen, muss man entweder mit dem Wächter verhandeln, oder hoffen, dass ein Befehl von ganz oben kommt.“ Wie in der Ukraine-Krise, als hunderttausenden Menschen aus dem Donbass der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden war.
Dass syrische Flüchtlinge aufgenommen werden, sei dagegen politisch nicht gewollt: „Bei der Überprüfung des Flüchtlingsstatus wird vielmehr darauf geachtet, wie sich die Person beim Verfahren oder im Land verhalten hat“, sagt Burtina weiter. „Die Schlüsselfrage, ob die Person im Herkunftsland gefährdet ist oder nicht, spielt somit keine Rolle.“
Die Anzahl der syrischen Flüchtlinge in Russland ist, an Deutschland gemessen, relativ gering. Der Migrationsdienst ging zuletzt von 8.000 syrischen Flüchtlingen in Russland aus, die Flüchtlingsorganisation „Bürgerhilfe“ spricht von 12.000 Betroffenen. Allerdings haben laut Daten der Migrationsbehörde FMS bisher nur 1.585 syrische Staatsbürger temporäres Asyl erhalten. Die Crux dabei: Dieser Status muss jedes Jahr verlängert werden. So wurde auch Shaadi, dem Familienvater, bei seiner Einreise vor zwei Jahren Flüchtlingsstatus gewährt. Im Sommer wurde er allerdings nicht verlängert. Damit würden Schutzbedürftige, die zuvor noch als Flüchtlinge anerkannt wurden, plötzlich in die Illegalität abrutschen, kritisieren Menschenrechtler.
Am Flughafen gestrandet
Für Aufsehen sorgte zuletzt der Fall einer syrisch-irakischen Familie am Moskauer Flughafen Scheremetjewo. Die Behörden nahmen sie bei der Einreise wegen gefälschter Dokumente fest. Gegen eine Kaution von umgerechnet 700 Euro kamen sie frei, ihr Status ist aber weiterhin ungeklärt. So sitzt die Familie schon mehr als einen Monat in der Transitzone des Flughafens fest. „Selbst, wenn sie gefälschte Dokumente gehabt hätten, müsste ihnen eigentlich Flüchtlingsstatus gewährt werden“, sagt Swetlana Gannuschkina von der „Bürgerhilfe“. Damit würde Russland gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen, die Moskau 1992 unterschrieben hat.
Wieso versuchen Flüchtlinge trotzdem nach Russland zu kommen, wo die Lage doch so schwierig ist? „Einerseits sind das Syrer mit persönlichen Verbindungen nach Russland. Sie haben Verwandte oder kennen jemanden, der hier arbeitet“, sagt Olga Narymski von der UN-Flüchtlingshilfe in Moskau. Zuletzt ist Russland noch als Transitland nach Europa über die so genannte „arktische Route“ in den Fokus gerückt. Allein in der vergangenen Woche wurden zwischen der russischen Stadt Murmansk und dem norwegischen Skorskog 501 Grenzübertritte von Asylsuchenden gezählt – so viele, wie noch nie, sagt der Norwegian Refugee Council (NRC).
Einen direkten Zusammenhang mit den syrischen Luftangriffen sehen Experten nicht. „Vielmehr kann es sein, dass die Flüchtlinge mit dem Grenzzaun in Ungarn nach alternativen Routen suchen, um nach Europa zu gelangen“, sagt Paal Nasse vom NRC. So würden Flüchtlinge mit Kurzzeit-Visa nach Moskau reisen und dann weiter via Flugzeug, Schiene oder Straße nach Murmansk, um die Grenze nach Norwegen zu überqueren. Die norwegischen Behörden gehen heute von 9.000 Migranten über diese Route aus.
Zurück im Plattenbau. Trotz all der Widerstände geben Ahmed und Shaadi die Hoffnung nicht auf. Sie wollen den negativen Asylbescheid anfechten. Nach Europa wollen sie nicht. „Hier in Russland fühle ich mich eigentlich wohl“, sagt Shaadi. „Ich hoffe, dass sich die Lage in Syrien verbessert.“ Danach sieht es derzeit allerdings nicht aus: Nach Luftschlägen sollen erst in den letzten Tagen wieder Zehntausende Menschen rund um Aleppo auf der Flucht sein.