Innenansicht: Putins letzter Rohstoff
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Ich sitze bei einem alten Bekannten, einem Offizier im Ruhestand. Vor seinen Fenstern sehe ich eine typische russische Kleinstadt, eher ein Dorf, mit meist einstöckigen Häusern.
Vor gut einem Jahr, Ende September 2014, habe ich ihn hier zuletzt besucht. Nachts hielten am kleinen Bahnhof Militärkonvois in Richtung Ukraine: Sattelschlepper mit Panzerfahrzeugen, Kommandowagen und Wagen voll mit Berufssoldaten.
Am Konvoi huschten fliegende Händlerinnen vorbei, die Passagiere warteten auf ihre Züge. Das Flutlicht auf dem Bahnsteig machte die Dunkelheit ringsum noch dichter, nichts war zu erkennen.
Alle machten mit bei dem Spiel
Die Bewohner gaben sich Mühe, stramm und forsch zu wirken. Die Männer erklärten ihren Begleiterinnen – etwas angeberisch, schaut her, was wir für Dinge wissen! – den Zweck der Militärtechnik. Den Soldaten schenkten sie Zigaretten. Diese rauchten und schauten in die Dunkelheit. Mit leichter Überheblichkeit sprachen sie mit den Zivilisten, ihre Antworten waren einsilbig.
Alle machten mit bei einem Spiel: Wir wissen, dass ihr wisst, wohin wir fahren. Aber davon sagen wir euch nichts. Eine alte Piroggen-Verkäuferin segnete den Zug mit einem Kreuzzeichen. Söhnchen, Söhnchen, murmelte sie. Der Befehl kam, die Söhnchen stiegen ein. Der Zug setzte sich in Bewegung, in einen schändlichen Krieg, mit dem Russland angeblich nichts zu tun hat.
Und wir, wir gingen nach Hause. Wir gingen nach Hause in der dichten Dunkelheit der Herbstnacht. Plötzlich tauchte ein schwaches Lämpchen auf, das gerade mal einen Meter eines robusten Zauns beleuchtete. Darin: ein Fenster, umrahmt von Blech.
Bitterer Lohn für den Kriegsdienst
Jemand kroch in der Dunkelheit der Gosse auf allen Vieren – vielleicht Menschen, vielleicht Hunde. Geschlucke, Geschlurfe, glucksendes Geschimpfe, zu zweit, zu dritt? In der Dunkelheit nicht auszumachen. Einer stand mühsam auf, murmelte ein „Gutenacht“ und sackte ab auf das ausgetrocknete Gras.
„Er hat in Afghanistan gedient”, brach mein Offiziersfreund das Schweigen. „Man nennt ihn Pawel, der Afghane.” Irgendwo in der Ferne rollte der Zug mit neuen Soldaten in einen neuen Krieg. Und hier, im Dreck, starb Tag für Tag, Jahr für Jahr – wie robust doch der menschliche Körper ist! – immer noch ein Soldat eines alten Krieges. Einer, der auch Jahrzehnte später noch den bitteren Lohn für seinen Kriegsdienst bekommt.
Nun sprechen mein Freund und ich ein Jahr darauf wieder. Der Bahnhof ist leer, keine Züge rollen mehr Richtung Ukraine. Nach Syrien machen sich Schiffe und Transportflugzeuge auf. Ich versuche zusammenzufassen, was in den vergangenen Tagen in den sozialen Netzwerken diskutiert wird: Putin ist verrückt geworden, er braucht einen neuen siegreichen Krieg anstelle des erstarrten Donbass-Konflikts, er will Russland den Supermachtstatus zurückholen.
Kein Geld für Jagdbomber
„Du verstehst nicht”, sagt mein Freund nur, „du verstehst nicht.”
In Russland scherzt man, dass es keine ehemaligen Geheimdienstler gibt. Die Spione seien für immer im Dienst, selbst wenn sie längst gekündigt haben. Mit den Militärs ist es das Gleiche: eine eigene Welt verborgener Beziehungen, eigene Informationskanäle, die ein Leben lang halten.
„Ich mache Geschäfte mit einer Fabrik, die Ausrüstung für Militärflughäfen herstellt”, erzählt der ehemalige Offizier. Der Fernseher zeigt uns den Start und die Landung eines Jagdbombers auf der temporären Basis in Syrien. „Die Fabrik bekommt kein Geld für die Aufträge überwiesen”, berichtet mein Freund. „Man verspricht ihnen, dass das Geld später kommt. Aber der Staat zahlt nicht. Es gibt kein Budget.”
Syrien als Verhandlungsplattform
Mein Freund erklärt mir, wir effizient die Sanktionen wirken, die der Westen Russland wegen des Ukraine-Krieges auferlegt hat. Es gibt keine Kredite mehr aus dem Ausland, und bald kommt der Kollaps. Der Ölpreis ist gefallen. Der alte, relative Wohnstand kommt nicht wieder.
Diesen Gedanken haben bereits russische Politikanalysten geäußert: Russland muss sich selbst eine Möglichkeit schaffen, um aus der Isolation herauszukommen und wieder mit der Welt verhandeln zu können. Niemand hat sich in den vergangenen Monaten mit Putin getroffen. „Niemand geht ran, wenn er anruft”, so wird das bildlich beschrieben.
Deswegen braucht die russische Führung eine Verhandlungsplattform, eine Frage, über die man mit ihr garantiert sprechen wird – einen ersten Schritt, um ökonomische und diplomatische Sanktionen zu überwinden. Als Plattform wählte der Kreml Syrien.
Ausgleich durch Agression
So die durchaus überzeugende Theorie. Doch ich finde, sie greift zu kurz, denn sie lässt zwei Dinge außer Acht. Erstens: In einer repressiven Gesellschaft wie der russischen, die bürgerliche Freiheiten erstickt, gibt es zwei Ventile für die angestaute Aggression: Ein internes und ein externes. Das interne Ventil ist die Unterdrückung von „Feinden der Nation”, von „unzuverlässigen” Minderheiten aller Art: Oppositionellen, Journalisten oder Schriftstellern. Aber Schläge gegen Teile des eigenen Volks, selbst wenn sie „fremd” sind, bergen doch ein Risiko: Die Spaltung der Nation.
Deshalb müssen diese Schläge durch Aggression nach außen ausgeglichen werden. Die Nation, als „reines” Ganzes tritt einem ausländischen Feind entgegen, sie sammelt sich gegen das „Böse der Welt.” So lautet leider die unabdingbare Entwicklungslogik eines autoritären Regimes.
Doch es gibt noch einen zweiten Umstand, einen, der den russischen Präsidenten persönlich betrifft. In seiner politischen Biographie gibt es ein Kapitel, das ihn in die Nähe des syrischen Diktators Baschar al-Assad bringt – und ihn von westlichen Politikern trennt. Es ist ein frühes und leider weitgehend vergessenes Kapitel.
Sei hart, die Welt wird's akzeptieren
Wie Assad hat Putin Krieg auf dem eigenen Territorium geführt: Den Krieg gegen Tschetschenien. Dieser Krieg machte aus Putin erst den Politiker, der er jetzt ist. Ein überaus brutaler Krieg mit Bombardierungen von Städten und zehntausenden toten Zivilisten.
Der Westen hat – jedenfalls rhetorisch – Tschetschenien damals unterstützt. Anführer der tschetschenischen Opposition wurden in europäischen Hauptstädten empfangen. Doch Putin setzte auf Stärke und gewann, Tschetschenien wurde befriedet. Wer sich nicht prorussisch gab, wurde für lange Jahre als „Terrorist” gebrandmarkt. Leider gab es an echten Terroristen auch keinen Mangel.
Schlussendlich hat der Westen das alles geschluckt. Niemand hörte auf, Putin die Hand zu schütteln. Das öffentliche Echo beschränkte sich auf einige alarmierende Berichte von humanitären Organisationen. Die toten Tschetschenen und die gefallenen russischen Soldaten sind weitgehend in Vergessenheit geraten.
Das Ziel hatte die Mittel geheiligt: Ein modus operandi entstand, ein Code, der das Wesen Putins als Politiker bestimmt, nach dem Motto: Sei hart, und die Welt wird’s akzeptieren. Und wenn die Welt sich sträubt, dann warst du nicht hart genug. Leg noch einen drauf.
„Putin hat nur noch einen Export-Rohstoff übrig: Das Blut russischer Soldaten”, sagt mein Freund plötzlich, wie um unser Gespräch abzurunden. Er scheint überrascht von der griffigen Formel. Meiner Meinung nach sind die Soldaten aber nicht nur für den Export wichtig, sondern sie sind mittlerweile die letzten Garanten der inneren Stabilität Russlands.
Aus dem Russischen von Pavel Lokshin
Zur Person:
Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren. Er ist Autor von Gedichten, Essays und journalistischen Texten. Sein Buch „Menschen im August“ hat in diesem Oktober in Deutschland Weltpremiere, nachdem Lebedew in Russland zwei Jahre lang einen Verlag dafür suchte. Lebedew verknüpft darin die Zeit des Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution mit dem Zerfall der Sowjetunion, als sich das Oligarchen-System etablierte und der erste Tschetschenienkrieg begann. Die unbewältigten Folgen des Terrors zeigen sich noch in der Gegenwart, etwa mit der Ermordung von Boris Nemzow, so Lebedew. 2011 erschien sein Romandebüt „Der Himmel auf ihren Schultern“.