Russland

Der russische Maidan

Als die „Schneerevolution“ losbrach, regnete es. „Russland ohne Putin!“ skandierte die Menge am Moskauer Boulevardring. Sergej Dawidis traute seinen Augen nicht, als er die vielen Menschen sah. „Das haben weder wir, noch die Polizei erwartet“, erinnert er sich heute. „Die Tontechnik war überhaupt nicht für so viele Leute eingestellt!“

Was als Protest gegen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011 begann, wurde zu Russlands größter Protestbewegung seit der Wende. Bis zu 120.000 Menschen gingen laut Veranstaltern in den folgenden Tagen und Wochen auf die Straße. „Russlands Erwachen“ oder „Aufstand gegen Putin“ titelten internationale Zeitung damals, die „Schneerevolution“ war geboren.

Dawidis hat die Proteste damals mitorganisiert und selbst viele Hoffnungen in die Bewegung gesetzt. Er hat sogar eine Partei nach jenem regnerischen Tag benannt: die „Partei des 5. Dezember“. Doch wenn Dawidis heute über jene Tage spricht, schwingt Bitterkeit mit. Denn die Geschichte der Winterproteste ist auch eine Geschichte der Enttäuschungen. Seine Partei ist bis heute nicht registriert und somit nicht zu Wahlen zugelassen.


Verschleppte Reformen 

Was unterscheidet die „Schneerevolution“ vom Maidan in der Ukraine? „In Russland hat das zu einer Konterrevolution geführt“, sagt der Publizist Kirill Martynow. Versprochene Reformen wurden verschleppt, die Protestwelle ebbte ab, als Wladimir Putin im Mai zu seiner dritten Amtszeit eingeschworen wurde. Die Proteste richteten sich auch gegen seine Wiederwahl. Danach wurden die Daumenschrauben erst richtig angezogen: Die Arbeit von NGOs und Medien wurde weiter eingeschränkt, das Versammlungsgesetz verschärft. Die so genannten Bolotnaja-Prozesse – nach den Protesten am Bolotnaja-Platz benannt – dauern bis heute an.

Schon am ersten Tag der Proteste kam es zu Verhaftungen. „Der Staat bin ich – der Staat sind wir!“ sang Wasili Schumow an einem dieser kalten Dezembertage in den Moskauer Abendhimmel. Aus Solidarität mit den Verhafteten – darunter auch der Blogger Alexej Nawalny – hatte der Musiker ein Konzert organisiert. Er weiß noch genau, wie bunt die Protestbewegung damals war: „Rechts von der Bühne standen die Kommunisten, links die Demokraten und die Liberalen, dazwischen die Nationalisten und Monarchisten.“ 

Sie einte damals ein Ziel: freie und faire Wahlen, um den Einzug in die Duma, das russische Parlament, zu schaffen. Heute ist die Opposition vor allem in der Frage zur Ukraine-Politik gespalten – zwischen Liberalen, die den Euromaidan unterstützen, und Nationalisten, die die Außenpolitik des Kreml befürworten.


Kampf statt Flashmob

Es waren jedoch nicht die politischen Aktivisten, die aus den Protesten eine Massenbewegung machten – sondern die junge, „kreativen Klasse“, die sich bisher nicht für Politik interessiert hatte. Die Ausgerechnet am 5. Dezember lag Alexandra Archipowa, 37, mit einer Nierenentzündung im Spital. „Wir haben hier eine Revolution!“ riefen ihre Freunde aufgeregt an. Dieser Tage hat die Kulturwissenschaftlerin einen Sammelband zu den Protesten herausgegeben. Das Ergebnis ihrer Arbeit: Die meisten Demonstranten waren zwischen 28 und 39 Jahre alt, 80 Prozent hatten einen Uniabschluss.

Die Proteste blieben friedlich – vom heiligen Ernst, der zwei Jahre später über den Kiewer Maidan fegte, keine Spur. „Anders als am Maidan war die breite Masse nicht bereit, ihre persönliche Freiheit für die Demokratie zu opfern“, sagt Musiker Schumow heute. „Aber sie haben verstanden, dass Politik in Russland kein Karneval, kein Flashmob ist – sondern ein richtiger Kampf.“

Eine derartige Protestwelle hat es seither nicht mehr gegeben – zuletzt gingen im September beim „Friedensmarsch“ Schätzungen zufolge 26.000 Menschen in Moskau gegen die Ukraine-Politik des Kreml auf die Straße. Am Wochenende haben in Moskau Ärzte gegen die Schließung von Spitälern protestiert. „Heute sehen wir in Russland keine große, landesweite Protestbewegung mehr, sondern viele kleine, lokale Initiativen“, sagt der Soziologe Mischa Gabowitsch. „Ihr Ziel ist zumeist nicht der radikale Wandel des Regimes, sondern die Neugestaltung der unmittelbaren Alltagswelten – von Umweltfragen bis zur Stadtplanung.“ Dennoch hätten die Proteste aus dem Jahr 2011 zu einer „vollkommen neuen Erfahrung“ für viele Menschen geführt – und die russische Protestkultur nachhaltig verändert, so Gabowitsch.


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