Bulgarien

Der bulgarische Dämon

„Da kommt ein Dämon, ohne Farbe, in Uniform, er ist lang, unendlich lang und will mich umbringen, mit so einem lachenden Zynismus und verachtendem Hass“, erzählt Christian Staudinger einen seiner Träume. Der Dämon der Erinnerung an seine gescheiterte Flucht lässt ihn auch nach 43 Jahren nicht los.

1971 versuchte der damalige DDR-Bürger, über Bulgarien in den Westen zu fliehen. Von Achtopol aus, einer kleinen Stadt an der bulgarischen Schwarzmeerküste, machte sich Staudinger im September 1971 auf in Richtung türkischer Grenze. Gemeinsam mit einem Freund wanderte er südwärts die Steilküste entlang, in der Hoffnung, dass sie dort, abseits der Straße, nicht entdeckt würden. Als sie nach Stunden an der Weleka ankamen, einem kleinen Zufluss zum Schwarzen Meer, dachten sie bereits, sie hätten es geschafft. Ein Fehler in ihrem Kartenmaterial, wie sich schnell herausstellte: Die Grenze war noch zehn Kilometer entfernt.


Es begann ein wochenlanges Martyrium

Staudinger erzählt, wie mitten in ihrem Freudentanz das geschah, was ihn bis heute umtreibt: Plötzlich näherten sich zwei Grenzsoldaten, die Gewehre auf sie gerichtet. Staudinger und sein Freund wurden verhaftet, es folgte ein wochenlanges Martyrium in einem bulgarischen Gefängnis: Hunger und Durst, eine Scheinhinrichtung, Beschimpfungen und Demütigungen durch die deutschen Verbindungsoffiziere der Stasi.

Zurück in der DDR wurde Staudinger wegen „versuchter Republikflucht“ und „staatsfeindlicher Hetze“ zu einem Jahr und sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Am 13. November 1972 wurde er direkt aus dem Gefängnis in die Bundesrepublik Deutschland entlassen und aus der DDR ausgebürgert.

Das Stasi-Archiv Bulgariens wurde im Jahr 2006 geöffnet. Die Aufarbeitung der Fluchtversuche über die Grenze steht noch am Anfang. / Dagmar Gester, n-ost
Der Künster Christian Staudinger in seinem Atelier. / Dagmar Gester, n-ost

Die traumatischen Erlebnisse von Haft und Folter haben Staudingers Leben geprägt. „Ich dachte, ich überlebe das nicht“, erinnert sich der 62-Jährige, der heute als Künstler in Berlin lebt. „Physisch hatte ich nie mehr so ein Erlebnis.“ Die Haft in der Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Erfurt „war psychisch schwierig, so eine Stille, nichts, kein Geräusch, aber in Bulgarien war das körperlich schlimm“.

Von seiner vierwöchigen Haft im bulgarischen Burgas erzählt Staudinger so detailliert, dass der Schmerz förmlich zu spüren ist: „Ohne Fenster, ohne Licht, eine Stahltür. Es gab kein Klo, deshalb hat es fürchterlich gestunken. Lehmfußboden mit Stroh, mehr war da nicht drin.“ Er habe geweint und geschrien, nach jemandem von der DDR-Botschaft gerufen. „Einmal am Tag kam einer, wenn ich so schrie, und hat mir ins Geschlecht getreten.“ Essen habe es nicht gegeben, nur einmal am Tag etwas Wasser mit Tomatenschalen. „Ich hatte Schmerzen vor Hunger. Wenn der Schmerz nachließ, kamen sie und haben mir ein kleines Stück Halva gegeben, das habe ich gierig gefressen. Aber dann war er wieder da, der Hungerschmerz.“


Kein Interesse an einem Mahnmal für die Opfer

Staudinger versuchte vieles, um zu vergessen und sich vom Hass zu befreien: Fallschirmspringen, Sozialarbeit im Frauenknast, Psychoanalyse, Yoga. Doch erst die Kunst hat ihm geholfen. 2004 unternahm er gemeinsam mit seiner Frau eine Erinnerungsreise nach Bulgarien und entwickelte ein künstlerisches Konzept für ein Mahnmal für die deutschen Opfer vor dem Gefängnis in Burgas: zwei Stahlkästen übereinander, der eine in der Größe der Zelle, in die er eingepfercht war, ein Meter mal zwei Meter mal 1,60 Meter, der zweite mit Rosen bepflanzt. Das Konzept wurde dem bulgarischen Kulturministerium übermittelt, ohne Resonanz.

Das Stasi-Archiv Bulgariens wurde im Jahr 2006 geöffnet. Die Aufarbeitung der Fluchtversuche über die Grenze steht noch am Anfang. / Dagmar Gester, n-ost
Das bulgarische Stasi-Archiv wurde erst 2006 geöffnet. / Dagmar Gester, n-ost

Immer wieder, erzählt Staudinger, sei ihm gesagt worden, Bulgarien sei noch nicht so weit in seiner Verarbeitung der eigenen Geschichte, das Thema würde auf kein öffentliches Interesse stoßen. Das „Thema“, die Verbrechen an der bulgarischen Grenze, bekommt bis heute kaum Aufmerksamkeit im Land. Einzig ein Spielfilm, ­„Graniza“ (Grenze) aus dem Jahr 1994, bricht dieses Tabu. Der Film zeigt, wie junge Soldaten gezwungen werden, im Grenzgebiet „Verbrecher“ zu erschießen, um ein paar Tage Ferien zu bekommen und so dem enormen psychischen Druck zumindest für kurze Zeit zu entfliehen.

Die bulgarische Regierung widmete sich genau einmal dem Thema: Im Februar 1992 berichtete der damalige Verteidigungsminister Dimitar Ludschew, dass mindestens 339 bulgarische Staatsbürger und 36 Ausländer – vor allem Urlauber aus der DDR – von Angehörigen der Grenztruppen getötet worden seien.


Mindestens 3.000 bis 4.000 Fluchtversuche von DDR-Bürgern

Der Berliner Politikwissenschaftler Stefan Appelius war der erste, der die Schicksale deutscher Flüchtlinge in Bulgarien erforscht hat. Er schätzt, dass es über Bulgarien zwischen August 1961 und November 1989 mindestens 3.000 bis 4.000 Fluchtversuche von DDR-Bürgern gab. Mehr als zwei Drittel waren junge Männer Anfang 20, so wie Christian Staudinger damals. Zwischen der bulgarischen und der deutschen Staatsicherheit bestand Appelius zufolge eine enge Zusammenarbeit, die insbesondere aufgrund der schnellen Entwicklung des Massentourismus am Schwarzen Meer in den 1960er Jahren ausgebaut wurde.

Überbleibsel der Grenzanlage an der ehemals südlichen Grenze des Warschauer Pakts an der bulgarisch-türkischen Grenze. / Dagmar Gester, n-ost
Überbleibsel der Grenzanlage an der ehemals südlichen Grenze des Warschauer Pakts an der bulgarisch-türkischen Grenze. / Dagmar Gester, n-ost

Bulgariens Grenzen zu den Nachbarstaaten Türkei, Griechenland und Jugoslawien waren bis 1989 dicht. Was an dieser „bulgarischen Mauer“ geschah, dazu forscht auch der bulgarische Historiker Momtschil Metodiew, seit 2006 das bulgarische Stasi-Archiv geöffnet wurde. Die Akten beinhalten keine genauen Opferzahlen, doch dokumentieren sie, wie das System funktionierte. In der Grenzzone, die jeweils 15 Kilometer weit ins Land hinein ragte, durften zwar Menschen wohnen, doch durfte niemand unangemeldet hinein.

„In allen Grenzgebieten gab es sogenannte vertraute Personen, die stets bereit waren, zu melden, wenn ein Unbekannter in der Umgebung erschien“, schildert Metodiew. Es sei einfach gewesen, über Propaganda die Menschen gegen den „Feind“ zu mobilisieren. In der bulgarischen Mangelwirtschaft habe das System Zuträger mit kleinen Geschenken wie Anzugstoff oder Armbanduhren oder mit Jobversprechen überzeugen können. „So waren fast alle daran beteiligt, ‚Feinde‘ oder unbekannte Leute sofort zu melden.“

Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb es Bulgarien bis heute schwer fällt, die Verbrechen an der Grenze vor 1989 als Verbrechen zu bezeichnen. Lubomir Wasilew aus Sinemorets südlich von Achtopol war in jener Zeit Leiter der Grenzabteilung am Schwarzen Meer, als Christian Staudinger seinen Fluchtversuch unternahm. Er ist bis heute überzeugt, alles richtig gemacht zu haben: „Unsere Grenze war vorbildlich, perfekt.“ Seine Soldaten hätten nicht geschossen, behauptet er. „Aber wir haben unsere Grenze verteidigt und das gemacht, was nötig war.“


„So waren die Zeiten damals“, meint der ehemalige Grenzer

Wasilew erinnert sich nicht an Staudinger, aber an andere Deutsche, alle sehr jung, die danach zurück in die DDR gebracht wurden. Die Vorstellung von einem Denkmal für die Opfer erscheint ihm abwegig, denn, so sagt er, die meisten Leute, die über die Grenze fliehen wollten, seien Kriminelle gewesen. Und, so fügt mit einem Achselzucken hinzu, „so waren die Zeiten damals“.

Anders als in Deutschland wurde in Bulgarien kein für die Todesschüsse verantwortliches Regierungsmitglied vor Gericht gestellt. Auch gibt es kein Museum, das diesen Teil der bulgarischen Geschichte erzählt, obgleich viele Menschen solche Geschichten aus ihrer Familie kennen. Auch ein Mahnmal gibt es bis heute nicht. Doch Staudinger hofft, dass es dazu noch kommen wird. Bei seiner letzten Bulgarienreise habe er intensive Gespräche zu dem Thema geführt – vielleicht ein gutes Zeichen dafür, dass die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät.


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