Russland

„Ihr glaubt Antworten, die Euch gefallen“

Der Russland- und Ukraine-Korrespondent Moritz Gathmann wirft seinen russischen Kollegen vor, dass sie der Propaganda des Kreml glauben. Alles, was ihnen nicht passe, sei für sie „Faschismus“. Er bedauert, dass es schwieriger geworden sei, miteinander zu sprechen.

Moritz Gathmann, geboren 1980, ist freier Journalist und lebte bis vor kurzem in Moskau.
Moritz Gathmann, geboren 1980, ist
freier Journalist und lebte bis vor
kurzem in Moskau.

Ich weiß, das Geschriebene wird den meisten missfallen. Wahrheit gefällt selten, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Trotzdem muss ich all das schreiben, weil mein Leben eng mit Russland verbunden ist.

Es macht mich traurig, dass der Kreml uns aufeinander hetzt, weil er seine Macht sichern will. Für uns alle ist es schwierig geworden, miteinander zu sprechen, weil die Bilder des Geschehens in unseren Köpfen sich zu stark unterscheiden. Aber die Wahrheit liegt eben NICHT irgendwo in der Mitte zwischen uns.

Wir – die Journalisten meines Landes – versuchen zu begreifen, was passiert. Wir streiten, wir „malen“ unterschiedliche Bilder des Geschehens, ausgehend von dem, was wir sehen. Ja, wir machen auch Fehler. Ja, wir haben manchmal unterschiedliche Prioritäten: Ich zum Beispiel habe unsere Medien dafür kritisiert, dass sie viel zu selten die humanitäre Seite dieses Konflikts beleuchten, und ich werde sie weiterhin dafür kritisieren.


Die Medien lügen Euch ins Gesicht

Die Mehrheit der russischen Medien versucht jedoch zu beweisen, dass die Ukrainer Faschisten sind, die von ihren zynischen westlichen Partnern unterstützt werden, während die Russen die Guten sind, die humanitäre Hilfe leisten und alles tun, um diesen Krieg zu beenden. Eure Medien liefern euch kein adäquates Bild des Geschehens. Sie geben euch Antworten, die euch gefallen. Deswegen glaubt ihr ihnen, selbst wenn sie euch ins Gesicht lügen.

Ja, Russen und Ukrainer sind – selbst wenn sie nicht ein Volk sind – eine „Gemeinschaft“. Ihr seid einander sehr ähnlich. Meine Gespräche mit den ukrainischen Landwehr-Männern und Maidan-Anhängern bestätigen das: Sie sprechen über dieselben Dinge. Darüber, dass man so nicht weiterleben darf, über die Macht des Volkes, über den Hass auf die Oligarchen und die politische Elite.


Wenn Russland gewollt hätte, dann hätte es den Krieg längst gestoppt

Der Kreml hat das verstanden. Er weiß, dass Russen und Ukrainer letztlich ein Volk sind, und dass darin eine große Gefahr für sein Regime liegt. Deswegen hetzen der Kreml und seine Medien die Menschen dieses gemeinsamen Volkes aufeinander. Der Kreml kann nicht zulassen, dass die Ukrainer nach dem Sieg des Maidan ein anderes Staatsmodell aufbauen, ein blühendes Land, in dem die Demokratie funktioniert, in dem das Volk die Staatsmacht kontrolliert.

All das könnte den Ukrainern eher gelingen, würde Russland nicht versuchen, sie ökonomisch und militärisch in die Knie zu zwingen. Der Krieg wird durch die russisch-ukrainische Grenze mit Kämpfern und Waffen gespeist. Wenn Russland diesen Krieg stoppen wollte, hätte es schon längst die Grenze dichtgemacht. Dann gäbe es keinen Krieg mehr.

Aber Russland wird diesen Konflikt weiterhin fördern, bis der Westen und Ukraine eine Abmachung erreichen. Die Kernpunkte dieser Abmachung: Fasst die Krim nicht an, und stört nicht den Gas-Export in den Westen. Alles andere, wie die Autonomie für den Donbass, ist Opium für das Volk.

Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Der Maidan war lange eine friedliche Versammlung von hunderttausenden Menschen mit einer Minderheit von Radikalen. Das Janukowitsch-Regime war nicht bereit zu echten Zugeständnissen und brachte die Situation erst zum Siedepunkt und dann zur Tragödie.

Nach der Flucht Janukowitschs wurden die Bürger der Ostukraine zu Waisen. Aber aus ukrainischen Medien, die das Janukowitsch-Regime unterstützten und das Bild der Lage ähnlich wie russische Medien darstellten, wussten sie, dass in Kiew nun angeblich Faschisten am Ruder seien.


Die Ukrainer haben keine Städte dem Boden gleichgemacht

Es war ein großer Fehler der neuen Regierung in Kiew, nicht nach Donezk oder Luhansk zu kommen um den Menschen dort auf Russisch zu erklären, dass sie keine Faschisten sind. Ja, viele Kämpfer der Landwehr glauben, dass sie gegen Faschisten kämpfen. Aber sie kämpfen nicht gegen Faschisten. Ja, es gab die Tragödie von Odessa. Aber das bedeutet nicht, dass Ukrainer Faschisten sind. Das bedeutet, dass dort an jenem Tag ein Mob von ukrainischen Faschisten wütete und dass die Polizei ihn gewähren ließ.

Das ist schrecklich, und die ukrainische Staatsmacht wird alles gründlich untersuchen müssen, wenn sie ein europäisches Land sein will. Das Gesetz über den besonderen Status der russischen Sprache wurde von der Rada, dem ukrainischen Parlament, am 23. Februar aufgehoben. Aber der Druck aus dem Westen führte dazu, dass Übergangspräsident Turtschynow die Aufhebung nicht unterzeichnete. Gegenwärtig wird ein neues Gesetz ausgearbeitet.

Alle Probleme, über die man im Osten der Ukraine spricht, einschließlich des Sprachenproblems, hätten mit gesetzlichen Mitteln gelöst werden können. Ja, im Osten herrscht jetzt Krieg. Aber diesen Krieg haben nicht der Rechte Sektor oder die sogenannten Ukrofaschisten entfacht. Diesen Krieg begannen Gruppen von Bewaffneten unter der Führung des russischen Staatsbürgers Strelkow, und Verbände von ehemaligen ukrainischen Sicherheitskräften von der Krim. Diese kamen in die Ostukraine und besetzten dort Städte, weil „die Ukrofaschisten vor der Tür" standen.


Schützengräben in den Köpfen

Doch es gab vor der Tür gar keine „Ukrofaschisten“. Ja, in den ukrainischen Freiwilligenbataillons gibt es Neonazis, oder Faschisten, wenn ihr sie so nennen wollt. Aber die meisten dieser Kämpfer kommen nicht aus der Westukraine, sondern aus dem Donbass, aus Saporischja, aus Charkiw. Die meisten ukrainischen Soldaten, die im Donbass kämpfen, sind Patrioten ihres Landes.

Ja, in Slowjansk nahmen die Ukrainer die Stadt unter ungerichtetes Artilleriefeuer. Ich habe darüber geschrieben, und auch die Menschenrechtsorganisationen Memorial und Human Rights Watch haben darauf aufmerksam gemacht. Doch die Ukrainer haben keine Städte dem Boden gleichgemacht, und werden das auch nicht tun. Die Situation ist eine andere als im Gazastreifen, obwohl man euch Tag für Tag das Gegenteil erzählt.

Den Bürgern von Donbass ist es jetzt schnuppe, wer gewinnt. Sie wollen ihr altes Leben zurück. Deswegen sieht man in Slowjansk nach der Befreiung keinen Partisanenkrieg gegen vermeintliche Faschisten.

Warum schreibe ich das alles? Ich will euch die Augen öffnen, weil man euch anlügt. Ich will, dass die Schützengräben in euren Köpfen nicht so tief werden, dass einmal der Tag kommt, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben. Wenn ich versuche, euch zu erklären, was passiert, und ihr schreit mir „Die sind doch Faschisten“ zu – dann haben wir einander nichts zu sagen.


Russland sei nicht alleine Schuld: Kiew nehme im Ukraine-Konflikt bewusst Terror gegen die eigenen Bürger in Kauf, antwortet der russische Journalist Vitali Leybin vom angesehenen Magazin „Russki Reporter“. Leybins Position verdeutlicht, wie tief die Wahrnehmungen des Ukraine-Konflikts sich inzwischen unterscheiden.

Der russische Journalist Vitali Leybin / privat
Der russische Journalist Vitali Leybin / privat

Während sich das Geschehen in der Ukraine weiterentwickelt, taucht – zugegeben selten – eine realistische Einsicht auf. Nämlich dafür, dass im Donbass hauptsächlich die sogenannten ATO-Kräfte bomben, also die ukrainische Armee und die von Oligarchen finanzierten Bataillone. Dass die fünfzig „Separatisten“, die in Odessa im Mai lebendig verbrannten, nicht sich selbst angezündet hatten. Dass die antirussische Hysterie schädlich für die Ukraine selbst ist, wo ein großer Teil der Menschen Russisch spricht und denkt.

Jedoch herrscht im Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Ukraine eine schablonenhafte These vor: Putin ist an allem schuld. Vom neutralen Standpunkt eines Friedensstifters aus gesehen wäre es naiv zu glauben, dass ein ziviler Friedensschluss aus der Kapitulation einer Konfliktseite resultieren kann – und dass nur eine Seite die ganze Schuld trägt.

Eine politische Lösung ist immer ein Kompromiss. Kiew spricht vom „demokratischen Maidan“ und darüber, wie gewaltsam der Versuch war, ihn zu unterdrücken. Der ehemalige Präsident Janukowitsch trägt tatsächlich eine Schuld – für seine unvernünftige Politik, für seine Habgier und für seinen Verrat.


Hass gegen die eigenen Bürger

Doch damals schaffte es die ukrainische Staatsmacht nicht, eine Demonstration aufzulösen, die zum Schluss sogar bewaffnet war, während jetzt die Staatsmacht nicht zögert, ihre eigenen Städte zu bombardieren. Dieser Krieg hat offiziellen Schätzungen zufolge bereits tausende von Todesopfern gefordert, wahrscheinlich sind es zehntausende.

Diejenigen Gruppen, die nach dem Maidan nun das Sagen haben, haben keine große Macht. Weil sie wegen ihrer Gewaltanwendung bereits Feinde ihrer eigenen Offiziere, der Polizei, der Bürokratie sind. Die ehemaligen Sicherheitskräfte gerieten unweigerlich in unversöhnliche Opposition zur Regierung – und auch zu Teilen des Landes.

Das Gewaltmonopol - also ein stabiler Staat - hörte nicht erst auf zu existieren, als „der russische Staatsbürger Strelkow“ kam, sondern, als der Rechte Sektor und die Maidan-Selbstverteidigung kam, und als Oligarchen wie Igor Kolomojski anfingen, bewaffnete Gruppen zu finanzieren.

Um ihre ohnehin schon geschwächte Machtposition zu erhalten, nimmt die neue Führung der Ukraine Massenmorde, ja faktisch Terror in Kauf. Sie verbreitet Hass gegen Millionen ihrer Bürger. Dabei ruft der Tod der eigenen Staatsbürger im Donbass, in Odessa oder Charkiw keine Trauer und Reue hervor – sie sind doch „pro-russisch“.


Der Konflikt wird auch vom Westen gespeist

Wie soll man diese Politik des Hasses und der kulturellen und physischen „Umformung“ einer Masse von Menschen anders bezeichnen als Nazismus, wo sie doch direkte Gewalt als Mittel der Machtsicherung einer Nation benutzt, mit Leitsprüchen wie „Ukraine über alles“ und „Ruhm für die Nation“?

Im Westen ist die Meinung verbreitet, Russland hätte eine direkte Aggression gegen Ukraine auf der Krim verübt, während die Aggression im Donbass nicht direkt, sondern vermittelt war. Also ist eine Lösung des Konflikts möglich, wenn man den Kreml dazu zwingt, die Hilfe für die Landwehr zu stoppen.

Darin liegt eine gewisse Logik: Die Krim wurde tatsächlich annektiert, und die Landwehr bekommt Hilfe aus Russland. Jedoch berücksichtigt dieses Weltbild nicht den Massenmord an der Zivilbevölkerung, den die Armee und die privaten Bataillons verüben. Es ignoriert die komplexe Natur der Ukraine und ihrer Staatsbürger, die ein Anrecht auf unterschiedliche Auffassungen von Frieden und Freiheit haben.

Dieses Bild macht es unmöglich zu sehen, dass eine Kapitulation des Kreml eine zerstörerische Krise in Russland selbst bedeuten würde. Denn die Mehrheit seiner Bevölkerung fordert den Schutz ihrer Brüder und Schwestern in der Ukraine vor der „Nazi-Junta“. Eine Kapitulation ist unter keinen Umständen hinnehmbar, trotz aller Sanktionen.

In Russland wird allgemein angenommen, dass die USA unter Mitwirkung der EU bewusst das Janukowitsch-Regime in der Ukraine zerstört haben und somit nicht nur einen gesellschaftlichen Konflikt provozierten, sondern ein antirussisches, direkt Washington unterstehendes und äußerst nationalistisches Marionetten-Regime an die Macht brachten.


Drei mögliche Szenarien

Der Krieg im Donbass wird mit Beratern und Waffen vom Westen aus – und nicht nur von Russland aus – gespeist, der Westen will Russland destabilisieren, es aus dem großen Spiel auf der Weltbühne ausschließen und den „Kalten Krieg“ endgültig gewinnen, um nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zu zerstören.

Wenn man von einem Bestreben für Frieden und von den europäischen Interessen ausgeht, sollte man sich sowohl von der „Kriegsmanie“ der USA und dem Verfolgungswahn Russlands distanzieren. Man sollte vielmehr sich auf das Schicksal der Ukraine selbst konzentrieren, auf die Erzwingung der Waffenruhe bei beiden Parteien, auf den Übergang zu einer politischen Lösung – und zwar auf Grundlage von Kompromissen der Kräfte innerhalb der Ukraine und auf die weitere Wiederherstellung des Landes.

Wenn man nicht über den Zerfall der Ukraine, sondern über ein geeintes Land sprechen will, gibt es nur drei Szenarien:

Erstens: Das Projekt – oder zumindest eine ferne Perspektive – eines geeinten Europas von Lissabon bis Wladiwostok, das die Widersprüche zwischen den verschiedenen Kräften in der Ukraine abzubauen erlaubt, weil eine Etablierung von freundschaftlichen Beziehungen sowohl mit Europa als auch mit Russland ins Visier genommen wird.

Zweitens: Die Fortsetzung einer Politik der aufgeschobenen Entscheidungen, der Kompromisse zwischen Russland und dem Westen. Diese Politik hat bereits Bankrott erlitten und mündete in den Maidan. Allerdings gibt es die Möglichkeit, für eine Weile ihren Anschein aufrecht zu erhalten.

Drittens: Eine ethnische Säuberung , also die Verdrängung oder Ermordung der Russen oder der pro-russischen und dem nationalitischen Programm der Ukraine entgegengestellten Staatsbürgern.

Die beiden ersten Szenarios wurden traditionsmäßig von Russland unterstützt. Sollte im Westen dennoch die Wahl auf das dritte fallen – sollten sich die Entscheidungsträger die Folgen einer solchen Wahl vergegenwärtigen – die Fortsetzung nicht bloß des „Kalten Kriegs“, sondern des Zweiten Weltkriegs.

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin, n-ost

Ein Jahr lang beleuchteten jeweils ein deutscher und ein russischer Journalist deutsch-russische Themen. Mit diesem Briefwechsel endet unsere Reihe. Er soll verdeutlichen, wie tief die Gräben zwischen beiden Seiten inzwischen sind. Weitere Beiträge aus der Reihe Russisches Quintett


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