Russland

Ein neues West-Berlin an der Ostsee

Kaliningrad (n-ost) Fernsehbilder sagen mehr als tausend Worte: Seit 1. Juli wissen alle Russen, dass im neuen Europa noch kein Platz für sie ist. 47 Reisende, die wegen fehlender Papiere von litauischen Grenzern aus dem Zug Tscheljabinsk-Kaliningrad geholt wurden und an der weißrussischen Grenze campieren mussten, wurden zur Topmeldung in den Hauptnachrichten. In den folgenden Tagen summierte sich die Zahl der Gestrandeten auf über einhundert Personen. Allesamt sind sie Opfer des Schengener Abkommens, das der EU-Beitrittskandidat Litauen pflichtgemäß zum 1. Juli eingeführt hat. Seitdem können ausnahmslos alle Russen, selbst wenn sie in der Ostsee-Exklave Kaliningrad leben, nur noch mit Transitdokumenten durch Litauen fahren. Am 1. Oktober, wenn auch Polen die Schengen-Regeln in Kraft setzen wird, ist die Isolierung der ehemaligen ostpreußische Hauptstadt Königsberg perfekt.
Monatelang hatte Russland mit Brüssel um den Visa freien Zugang nach Kaliningrad gerungen. Die Ostsee-Exklave befindet sich 1250 Kilometer von Moskau und 250 Kilometer von Weißrussland entfernt, das mit Russland assoziiert ist. Herausgekommen ist eine Regelung, die den Bewohnern Kaliningrads bisweilen abstruse bürokratische Hürdenläufe abverlangt.
Auf Drängen Präsident Wladimir Putins, der sich eine Lösung nach Art der Interzonenzüge durch die ehemalige DDR nach West-Berlin gewünscht hat, gilt für Transitzüge ein „vereinfachtes Transit-Dokument“. Ein Visum ist nicht nötig, stattdessen muss der Reisewillige beim Erwerb des Zugtickets am Bahnhof seinen Namen, sein Geburtsdatum und seine Passnummer angeben. Diese Daten werden spätestens einen Tag vor der Reise dem litauischen Zoll übermittelt. Die Grenzer überprüfen dann im Zug die Übereinstimmung der Daten mit dem Besitzer der Fahrkarte. Zudem ist von dem Reisenden ein weiteres Dokument auszufüllen, in dem er beteuert, dass er berechtigt ist, Litauen im Zug zu durchqueren und das Land nicht zu betreten.
Was sich für Moskauer und Brüsseler Bürokraten vielleicht plausibel anhört, hat bei vielen Kaliningradern das Gefühl erzeugt, von Europa wie Aussätzige behandelt zu werden. Und in der Praxis kam es am Kaliningrader Bahnhof zu stundenlangen Wartezeiten und chaotischen Zuständen. Die wachsende Zahl der gestrandeten Passagiere zeigt zudem, dass noch nicht an allen russischen, weißrussischen und ukrainischen Bahnhöfen, in denen Fahrkarten für Kaliningrad verkauft werden, die Neuregelung angekommen ist. Doch auch wer glaubt, alle Papiere beisammen zu haben, wird an der Grenze die Luft anhalten, dass auf den Formblättern nur ja keine Zahlen vertauscht, Stempel verdruckt oder Angaben falsch eingetragen wurden.
Die Ausstellung eines litauischen Jahresvisums scheint hingegen unbürokratisch abzulaufen. Es kostet etwa fünf Euro, die Wartezeit beträgt derzeit eine Woche. Allerdings ist ein Reisepass nötig und den besitzen gerade einmal 30 Prozent der 950.000 Einwohner des Kaliningrader Gebietes. Die übrigen hängen mit ihren alten Sowjetdokumenten in der Warteschleife der Passbehörden. Nach letzten Schätzungen wird bis zum Jahr 2005 der letzte neue Pass ausgestellt sein. Bis dahin hilft nur Fliegen. Eine von Moskau groß angekündigte Fährverbindung nach St. Petersburg wurde direkt nach der Jungfernfahrt Ende Dezember 2002 wegen Maschinenschadens eingestellt und befindet sich derzeit erst wieder im Probebetrieb.
Russen sind geduldige Menschen und eine nervenaufreibende Bürokratie gewohnt, deshalb wird sich die neue Visa-Regelung für Litauen irgendwann einspielen. Doch auch die größte Geduld hat einmal ein Ende, spätestens dann, wenn ganze Serien von Visen nötig werden.
Die Studentin Elena Dvuretschenskaja wollte Anfang Juli einer Einladung zu einem Sprachkurs in Lettlands Hauptstadt Riga folgen. Die Ausstellung des lettischen Visums dauerte aber so lange, dass keine Zeit mehr für ein litauisches Visum blieb. Ihre Hoffnung, dass die Visen gegenseitig anerkannt werden, endete am litauischen Schlagbaum auf der Brücke über die Memel in Tilsit: „Das Gespräch an der Grenze war schrecklich. Ich wurde zusammen mit einer Kollegin aus dem Bus geholt und wir mussten zu Fuß zurück zur russischen Grenze, wo man mir eigentlich gesagt hatte, ich könne durch Litauen fahren“, erzählt die 19jährige Kaliningraderin. „Wir sind dann bis zum Bahnhof in Sowjetsk (Tilsit), aber der war natürlich geschlossen. Auf einer Bank zu bleiben war zu gefährlich, wir hatten auch fast kein Geld mehr, so versteckten wir uns bis zum Sonnenaufgang hinter einigen Tannen.“
Kaliningrader, die ein Visum für Deutschland brauchen, sind oft gezwungen dafür zweimal zur deutschen Botschaft ins 1250 Kilometer entfernte Moskau zu fahren, was ja nun auf dem Landweg nur noch geht, wenn zuvor ein Transitvisum für Litauen besorgt wurde. Erst mit der für das Spätjahr geplanten Eröffnung eines deutschen Konsulates in Kaliningrad wird sich dies verbessern. Aber auch dann wird wohl ein Transitvisum für Polen nötig sein, damit Kaliningrader Deutschland überhaupt erreichen.
Das Bild, das Westeuropäer von der Exklave Kaliningrad haben, ist immer noch denkbar schlecht. Das Gebiet von der Größe Hessens gilt in Brüssel als Hochburg von Aids, Mafia, Prostitution, Drogenschmuggel und illegaler Einwanderung, was die Wahrheit nur sehr verzerrt widerspiegelt. „Was Kriminalität und Aids betrifft, gibt es keinen drastischen Unterschied zu den Nachbarländern. Im russischen Vergleich entwickelt sich das Gebiet sehr dynamisch“, hat der litauische Generalkonsul Vitautas Schalis erkannt, der seit zwei Jahren in Kaliningrad wohnt. Einen Verzicht auf Visa zumindest für Kaliningrader hält er in naher Zukunft für möglich.
Überhaupt scheint in der EU die Einsicht zu wachsen, dass die Gefahr, die von 950.000 Einwohnern Kaliningrads für bald 400 Millionen EU-Bürger ausgeht, vielleicht doch keine derart strikte Quarantäne verlangt. Bei einem Treffen mit Putin in Kaliningrad Ende Juni nannte Polens Präsident Alexander Kwasniewski die Visa-Regelung eine „Übergangsphase“. Doch eine Sonderregelung für Kaliningrad hängt nicht zuletzt von Moskau ab, wo man sich bislang gegen derartige Privilegien aus Angst vor Separatismus sträubte. Putin versucht Kaliningrad dagegen als Fuß benutzen, mit dem er die Tür nach Europa ganz für sein Land aufstoßen will. Bereits vor Monaten bot er die gegenseitige Abschaffung von Visa zwischen EU und Russland an - ein Vorschlag, den zumindest Finnlands Präsident Halonen inzwischen unterstützt.


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