Russland

Ölpest im Paradies

Kaliningrad (n-ost) „Wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen will“, so sollte man die Kurische Nehrung unbedingt gesehen haben. Dies empfahl einst der Weltreisende Wilhelm von Humboldt. Doch der Anblick des 100 Kilometer langen und kaum zwei Kilometer breiten Sandstreifens, der zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt und seit 1945 zwischen Russland und Litauen aufgeteilt ist, tut einem derzeit eher in der Seele weh. Seit fünf Tagen bemühen sich 1000 russische Soldaten und lokale Helfer die Folgen einer Ölkatastrophe zu beseitigen.
Offiziell war zunächst von 300 Kilogramm, später von einer Tonne Öl die Rede, die auf einer Länge von 70 Kilometern an Europas längsten Sandstrand angespült worden sei. Die Mitglieder der Kaliningrader Umweltschutzorganisation „Ecodefense“ schätzen das wahre Ausmaß der Katastrophe dagegen auf 40 Tonnen Öl auf einer Länge von 200 Kilometern Küste. Während sich das Kaliningrader Amt für Seeüberwachung nur wenige Stunden nach Auftreten des Öls auf den chinesischen Frachter „Fu Shan Hai“ als Verursacher festlegte, der vor sechs Wochen vor der immerhin 300 Kilometer entfernten dänischen Insel Bornholm gesunken ist, tippen die Umweltschützer auf eine nahe gelegene Ölbohrinsel. Die vom größten russischen Ölkonzern „Lukoil“ gebaute Plattform D6, befindet sich nur 22 Kilometer von der Kurischen Nehrung entfernt in der Ostsee und steht kurz vor der Fertigstellung.

Die Kaliningrader Behörden waren von der „schwarzen Pest“ am Montag völlig überrascht worden. Wladimir Maskin vom „Komitee für außergewöhnliche Situationen“ im Küstenort Selenogradsk am Eingang zum Nationalpark „Kurische Nehrung“ berichtet, dass man zunächst Schüler zum Saubermachen eingesetzt habe. „Die Kinder sollten auf den Strand gehen. Wir gaben ihnen Mülltüten mit. Zwei Tüten sollten sie sich um die Beine wickeln, mit der dritten dann den verunreinigten Sand sammeln.“ Maskin schätzt die Öl-Menge allein in dem von ihm betreuten Gebiet auf 5 Tonnen. Am stärksten sei die Verschmutzung innerhalb des Nationalparkes in Richtung litauische Grenze. „Das Öl liegt in kompakten Feldern entlang der Küste.“

Für die Bewohner der Küstenorte und die Einwohner Kaliningrads (Königsberg), die an
Wochenenden zu Zehntausenden zum Schwimmen an die Ostseestrände fahren, ist die Verschmutzung der Strände zur schönsten Sommerzeit ein riesiger Schock. Statt kleiner Bernsteinstücke hat der starke Wellengang des vergangenen Wochenendes schwarze Klumpen an die Strände gespült. Und nach Befürchtungen von Alexej Milowanow von „Ecodefense“ könnte dieses Szenario kein Einzelfall bleiben. Seit zwei Jahren kämpft die Umweltgruppe von einem kleinen Büro im 7. Stock eines Kaliningrader Plattenbaues aus gegen den Giganten Lukoil und sein Projekt D6. Die Hauptforderung der Umweltschützer ist, dass der Konzern die Pläne für die Bohrinsel offen legt und ein unabhängiges Umweltgutachten von westlichen Experten dazu einholt. Lukoil beruft sich hingegen darauf, dass alles regelgerecht nach russischen Gesetzen ablaufe und bei der Konstruktion der Plattform und der dazugehörigen 50 Kilometer Pipeline zum Kaliningrader Erdölterminal eine Technik verwendet werde, die „Null-Verschmutzung“ ermögliche.
Um die Offenlegung der Pläne zu erreichen, ist „Ecodefense“ vor Gericht gegangen, hat in erster Instanz aber verloren. Doch das Engagement der Umweltschützer geht weiter. Im Mai trafen Ecodefense-Vertreter in Taschkent am Rande eines Meetings den Chef der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Jean Lemierre. 150 Millionen der 240 Millionen Dollar, die Lukoil zum Bau von D6 verwendet, sind Kredite aus Brüssel. Auch mit der UNESCO sind die Umweltschützer in Kontakt. „Alle sind besorgt über das Projekt, aber ich kann keine echten Schritte erkennen“, kritisiert Milowanow die zögerliche Haltung des Westens. Zwar hat zuletzt vor allem das angrenzende Litauen versucht Druck auf die russischen Behörden auszuüben, doch den Litauern werden selbst Ambitionen auf Ölförderung in der Ostsee nachgesagt.
Die russischen Umweltschützer sehen sich vor allem durch die Kaliningrader Medien bedrängt. Lukoil ist mit Abstand der größte Investor in der Region. Es heißt, dass 30 Prozent der regionalen Steuereinnahmen von dem Ölkonzern abhängen. D6 schafft nach Angaben der Kaliningrader Behörden 230 neue Jobs auf 30 Jahre, die Dauer der geplanten Förderung. Doch viel mehr Arbeitsplätze in der Fischerei und im Tourismus seien gefährdet, hält „Ecodefense“ dagegen - dazu das einmalige Naturschutzgebiet „Kurische Nehrung“, in dem es noch Elche geben soll und das jedes Jahr hunderttausende Zugvögel anlockt. „Und D6 ist erst der Anfang“, glaubt Alexej Milowanow. Seine Organisation rechne mit dem Bau 14 weiterer Ölplattformen, sollte D6 erfolgreich realisiert werden.
„Den meisten Druck könnten wir durch die Presse aufbauen, aber Lukoil wurde einfach Co-Sponsor der größten regionalen Zeitung“, klagt Milowanow. „Sie haben bereits für eine Reihe Artikel bezahlt, die zeigen, wie toll doch das Projekt ist.“ Für den Umweltschützer ist D6 nicht zuletzt auch eine „Frage der Demokratie“ im neuen Russland. „Ein großer Konzern, der macht, was er will – ich denke Demokratie geht anders.“
Tatsächlich hat Lukoil im Dezember 2002 einen dubiosen „Vertrag über gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit“ mit den lokalen Behörden geschlossen. „Unsere Gesellschaft wird keine Zeit für die Überwindung bürokratischer Hürden verlieren und der Haushalt unserer Region wird mehr Geld an Akzisen und Steuern bekommen“, freute sich Lukoil-Präsident Wagit Alekperow bei der Unterzeichnung.
Bewährt sich dieses Bündnis derzeit bei der Vertuschung der wahren Gründe der Ölpest? Der Zufall wollte es, dass Lukoil für Mitte dieser Woche, also nur zwei Tage nach Bekanntwerden der Katastrophe, ausgesuchte Vertreter von Parlament, Presse und Wissenschaft zu einem Ortstermin auf die Plattform geladen hatte. Bei dieser Gelegenheit wurde die Fertigstellung der Bohrinsel bis Ende Juli und der baldige Anlauf des Probebetriebes verkündet. Könnte es da nicht sein, dass schon Anfang Juli ein wenig auf dem Grund der Ostsee gebohrt wurde? „Ecodefense“ ist jedenfalls zuversichtlich, anhand gesammelter Ölproben doch noch eine Urheberschaft von D6 an der Katastrophe nachzuweisen. Die letzte vergleichbare Ölpest in diesem Teil der Ostsee hatte es im übrigen Mitte der 80er Jahre gegeben. Auslöser damals waren Probebohrungen auf dem Grunde der Ostsee. Eine vor allem in Litauen starke Umweltbewegung stoppte aber in der Endphase der Sowjetunion das Projekt.

Informationen und Graphiken zu D6:
www.lukoil-kmn.com (Russisch und Englisch)
www.ecodefense.ru (Russisch und Englisch)



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