Die Angst flüchtet mit
Die Angst sitzt allen noch im Nacken. Die tschetschenischen Flüchtlinge wollen weder ihre Namen nennen noch auf Fotos auftauchen. „Wir wollen unsere Angehörigen zu Hause nicht gefährden“, sagt Ruslan V., ein hochgewachsener Mann mit Dreitagebart, der im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt gestrandet ist. Die kleine Stadt an der Ostgrenze Brandenburgs zu Polen hat in letzter Zeit viele Flüchtlinge aufgenommen. Im Lager sind derzeit 123 Flüchtlinge aus der Russischen Föderation untergebracht. Rund 95 Prozent von ihnen sind Tschetschenen.
Ruslan ist schon jetzt, wenige Wochen nach seiner Ankunft, sichtlich enttäuscht von Deutschland. „In Tschetschenien quält man uns, und hier erwartet uns niemand“, sagt er. Der 39-jährige Bauarbeiter hat sich mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern vor ein paar Monaten aus seinem Dorf in der Nähe der Hauptstadt Grosny auf die weite Reise nach Deutschland gemacht. In seiner Heimat hatte er gehört, die Tschetschenen seien in Deutschland willkommen. „Aber hier hat man sich noch nicht einmal meine Geschichte angehört.“
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Tschetschenien ist eine Teilrepublik der Russischen Föderation und gehört zum Nordkaukasus, der seit dem Ende der Sowjetunion eine Krisen- und Konfliktregion ist. In bewaffneten Konflikten werden beinahe täglich Menschen getötet. Das Leben der 1,3 Millionen Menschen in Tschetschenien ist noch immer von den Folgen der zwei Tschetschenien-Kriege geprägt, in denen die russische Regierung gegen die Rebellen kämpfte. Nach Darstellung des Kremls ging es dabei vor allem um die Abwehr islamistischer Terroristen. Viele Tschetschenen verstehen den Konflikt aber als Kampf um ihre Unabhängigkeit von Moskau. Seit 2007 herrscht Tschetschenien Präsident Ramsan Kadyrow, der mit Unterstützung aus Moskau den Wiederaufbau des Landes organisierte. Menschenrechtsorganisationen werfen ihm vor, für Morde und Folterungen verantwortlich zu sein und ein autoritäres Regime errichtet zu haben.
In der Umgebung seines Dorfes habe es ständig Gefechte zwischen Rebellen und Sicherheitskräften gegeben, erzählt Ruslan V. „Wer den Rebellen während des Krieges geholfen hatte, musste immer Angst haben, er wird nachts von den Kadyrow-Leuten abgeholt. Einige Leute in der Hauptstadt Grosny leben heute sehr gut, aber wir normalen Leute in den Dörfern leiden.“ In seinem Bekanntenkreis habe er immer häufiger gehört, dass es in Deutschland leicht sei, politisches Asyl zu bekommen und ein besseres Leben zu führen. Da habe er sich eines Tages dazu entschlossen, alles aufzugeben.
Die Zahl der tschetschenischen Flüchtlinge in Deutschland ist 2013 rasant angestiegen. Das lenkte die Aufmerksamkeit zum ersten Mal seit Jahren wieder darauf, dass der Nordkaukasus zu den schwierigen Konfliktregionen in Europa gehört. Bis zum 31. November stellten nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bundesweit 14.955 russische Staatsbürger einen Asylantrag, die meisten von ihnen waren Tschetschenen. Im Vergleichszeitraum 2012 waren es nur 2.773 Personen gewesen.
Schlepper locken mit falschen Versprechungen nach Deutschland
„Das ist alles ziemlich dramatisch“, beschreibt Ekkehard Maaß, der sich als Vorsitzender der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft in Berlin seit Jahren um tschetschenische Flüchtlinge kümmert, die Lage in der russischen Teilrepublik. Häufig lockten falsche Versprechungen die Flüchtlinge nach Deutschland. „Darüber hinaus hat sich die Menschenrechtssituation nicht verbessert, die soziale Lage ist perspektivlos und es werden gezielt Gerüchte verbreitet“, fügt Maaß hinzu.
Auch der Nordkaukasus-Bericht der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group (ICG) vom September beschreibt die bewaffneten Konflikte in der Region unverändert als die gewalttätigsten in Europa. „Während die Menschen nach dem Krieg noch dachten, dass die politische Lage in Tschetschenien nach dem Wiederaufbau besser wird, haben sie inzwischen jede Hoffnung verloren“, sagt die Moskauer Nordkaukasus-Expertin der ICG, Jekaterina Sokirjanskaja. Sie gehört zu den wenigen unabhängigen NGO-Vertretern, die regelmäßig in die Unruheprovinz reisen. Die Menschen fühlten sich dem autoritären Regime von Präsident Ramsan Kadyrow und der verbreiteten Korruption völlig ausgeliefert, sagt sie. „Es gibt keine Wahlen mehr und keine Proteste.“ Außerdem erhalte das Regime aus Moskau hundertprozentige Rückendeckung. Damit sei den Menschen jede Perspektive genommen, dass die Verhältnisse sich bald ändern könnten.
Wer mit den Flüchtlingen in Eisenhüttenstadt spricht, erfährt, dass sich viele Tschetschenen in ihren Dörfern regelrecht eingekeilt fühlen. In den Bergen kämpfen die Sicherheitskräfte des Kadyrow-Regimes weiter gegen den Widerstand der Rebellen. „Mein Bruder hat mit ihnen gekämpft. Als er nach Hause kam, habe ich ihn natürlich aufgenommen“, erzählt ein Mann im Flüchtlingslager. Wenige Tage später seien Vermummte in sein Haus eingedrungen, hätten ihn mitgenommen und die ganze Nacht gefoltert. Am nächsten Tag habe er sich halb bewusstlos auf der Straße seines Dorfes wiedergefunden. Solche brutalen Erlebnisse von Willkür und Hilflosigkeit schildern die meisten Flüchtlinge. „Ich möchte, dass wenigstens meine Kinder ein normales Leben führen können“, sagt Ruslan V. Die Zukunft der Kinder scheint für viele den Ausschlag zu geben, die Fahrt ins Ungewisse zu wagen. Aber es sind auch Leute dabei, die schwere Verletzungen erlitten haben und auf ärztliche Behandlung in Deutschland hoffen.
„Die Gesundheitsversorgung hat sich stark verschlechtert“, beschreibt Sokirjanskaja die Lage in den tschetschenischen Krankenhäusern, in denen ohne Bestechungsgeld kaum noch behandelt werde. Viele Ärzte hätten in den vergangenen Jahren die Heimat verlassen. Der medizinische Nachwuchs sei nicht ausreichend qualifiziert. Sie kenne deshalb viele Menschen, die auf eigene Faust versuchten, nach Deutschland oder Österreich zu gelangen.
Die Hauptroute führt über Belarus und Polen
Die Hauptreiseroute der Flüchtlinge führt nach Angaben der Bundespolizei mit dem Zug über Moskau und Brest in Belarus bis nach Terespol, das direkt auf der anderen Seite der belarussisch-polnischen Grenze liegt. Von dort erfolge die Weiterfahrt in der Regel mit Autos nach Warschau und Deutschland. Die Flüchtlinge bestätigen das. Unklar bleibt in ihren Erzählungen, welche Rolle Schlepperbanden auf dem mehr als 3.000 Kilometer weiten Weg spielen. Auch die Bundespolizei sagt dazu nur, die engen familiären Verflechtungen sowie Mund-zu-Mund-Propaganda spielten eine „nicht unerhebliche Rolle“.
Wer über Polen in die Europäische Union einreist, muss seinen Antrag auf politisches Asyl dort stellen – das heißt, wer weiter nach Deutschland fährt, sollte eigentlich nach den Bestimmungen der sogenannten Dublin-II-Verordnung der EU nach Polen zurückkehren. Das Bundesamt prüft in diesen Fällen keine Asylgründe, sondern nur den Reiseweg. Das brandenburgische Innenministerium nennt keine aktuelle Zahl der Rückführungen aus Brandenburg nach Polen. Da Familien nur gemeinsam zurückgeschickt werden, reiche es, wenn ein Familienmitglied nicht erscheine, um das Verfahren aufzuhalten, zeigt die Erfahrung der Behörden. Andere Flüchtlinge richteten Petitionen an den Bundestag, was eine aufschiebende Wirkung habe. Wem es gelingt, sechs Monate zu bleiben, erwirbt das Recht auf ein Asylverfahren in Deutschland.
„Einige Familien wollen inzwischen lieber wieder nach Hause“, ist die Erfahrung von Ekkehard Maaß von der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft. Sie machten schnell die Erfahrungen, dass das Leben in Deutschland nicht so einfach ist wie von Tschetschenien aus erhofft. Maaß beobachtet auch, dass die Ausreisewelle inzwischen wieder abflaut – es spreche sich herum, dass es in Deutschland mit dem Recht auf Asyl doch nicht so einfach sei. „Die soziale Lage der Flüchtlinge hier ist sehr schwierig“, sagt er und versucht, Unterstützung zu organisieren und bei der Organisation von Rückreisen zu helfen.
Für viele Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt ist die Rückkehr keine Alternative: „Ich wache jede Nacht auf und habe Angst, dass ich zurück muss“, erzählt einer der Männer mit leiser Stimme. Sein siebenjähriger Sohn frage ihn jeden Morgen, ob die Familie abgeschoben werde. „Ich habe mein Haus verkauft und all mein Geld in die Reise nach Deutschland gesteckt“, sagt der Vater verzweifelt. „Da hänge ich mich lieber auf, bevor ich zurückgehe.“