Russland

Klartext in Kaliningrad

Kaliningrad (n-ost) So deutliche Worte aus dem Mund eines prominenten Deutschen sind in Kaliningrad wohl noch nie gefallen: Seit Dienstag befindet sich der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass zu einem mit Spannung erwarteten Besuch in der russischen Ostsee-Enklave und legt dabei unbeirrt den Finger in die Wunden der Deutsch-Russischen Geschichte. Mit klaren Worten für die Akzeptanz der Geschichte Königsbergs und gegen ein Denkmal des russischen U-Boot-Kommandanten, der den Untergang des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ herbeiführte, sorgte Grass für Aufsehen. Russische Veteranen werfen ihm „eine übel-riechende Provokation“ vor.

Der gebürtige Danziger hält sich erstmals im ehemaligen Königsberg auf, das nach der Besetzung durch die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges für westliche Ausländer fast 50 Jahre lang gesperrt blieb. Grass kommt in eine Region, die demnächst von der EU umschlossen sein wird und immer noch ihren Platz in Europa sucht, hin- und hergerissen zwischen einer Öffnung nach Westen und russischem Großmachtdenken.

Anlass für die Visite des Nobelpreisträgers ist insbesondere seine im Jahr 2002 erschienene Novelle „Im Krebsgang“, in dem er die Flucht der Deutschen aus Ostpreußen und den Untergang des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945 beschreibt. In Kaliningrad befindet sich seit einigen Jahren ein Denkmal zu Ehren des russischen U-Boot-Kommandanten Alexander Marinesko, der die „Gusloff“ torpedieren ließ und damit für den Tod von etwa 9.000 Menschen, darunter 4.000 Frauen und Kinder, verantwortlich war.

Gleich zum Auftakt seines Besuches steuerte der 75-jährige Grass auf das heikle Thema zu. Im Deutsch-Russischen Haus, einem örtlichen Kulturzentrum, las er vor 150 geladenen Zuhörern ein Kapitel aus „Im Krebsgang“. Bei der anschließenden Diskussion räumte Grass zwar ein, dass die Gustloff nicht als Flüchtlingstransporter gekennzeichnet war und Marinesko unter militärischen Gesichtspunkten richtig gehandelt habe: „Es war kein Kriegsverbrechen“. Grass fügte jedoch an: „Es macht keinen Sinn noch immer über Heldentaten zu reden, wenn es um diese Art von Opfer geht. Es gibt keinen Grund, ihm und anderen militärischen Helden ein Denkmal zu bauen.“ Riskante Worte in einer Stadt, die ihre Identität vor allem aus dem Sieg der Roten Armee über den Nationalsozialismus bezieht, in der sich in beinahe jeder Straße Soldatendenkmäler befinden und in der fast jede Familie auf irgendeine Weise mit dem Militär verbunden ist.
Auf Wunsch von Grass nahmen je ein Vertreter der örtlichen „Marinesko-Gesellschaft“ und der Russischen Flotte auf dem Podium Platz. Beide wiesen die Kritik an dem Denkmal zurück. Viktor Gemanow, Vorsitzender der Marinesko-Gesellschaft, sprach von „14 Fehlern“, die sich in das Buch von Grass eingeschlichen hätten. Vor allem die Darstellung von toten Kindern, die kopfunter im Wasser treiben, sei „psychologisch übertrieben“. „Hätte es Begleitschiffe gegeben, wäre es wohl nicht zu dieser Katastrophe gekommen.“ Oleg Schtscheblykin, Offizier der Baltischen Flotte betonte, dass „Marineskos Heldentat bis heute als leuchtendes Beispiel für die russische Marine“ gelte. Er äußerte jedoch auch Verständnis für Grass: „Die Opfer des deutschen Volkes sind auch Opfer, hier sollten wir nicht gleichgültig sein.“
Während Grass von den geladenen Gästen viel Beifall erhielt, empörte sich Marinesko-Freund Gemanow hinterher in der russischen Presse: Der Auftritt von Grass sei eine „übel riechenden Provokation“ gewesen, zitiert ihn die Nachrichtenagentur Rosbalt. Nur mit gutem Willen könne man es als „Fehler“ durchgehen lassen, dass Grass überhaupt aus dem Buch „Im Krebsgang“ vorgelesen habe, obwohl es doch in Kaliningrad ein Marinesko-Denkmal gebe und die Baltische Flotte in diesem Jahr ihren 300. Geburtstag feiere. Auf der Internet-Seite der Agentur Rosbalt (www.rosbalt.ru) ist eine große Debatte über die Grass-Visite ausgebrochen. Einige Stimmen verteidigen die „humanistische Haltung des Schriftstellers“, in der Mehrzahl wird jedoch Marinesko als Held gefeiert. Die Komsomolzkaja Prawda, die einflussreichste russische Tageszeitung, formuliert neutral, dass Grass eigentlich als Versöhner gekommen sei, dies jedoch nicht erreicht habe.
Grass sprach auch bei anderen Gelegenheiten Klartext. Vor 300 Zuhörern im Auditorium der Kaliningrader Universität, überwiegend Germanistik-Studentinnen, las er einige Kapitel aus seiner Geschichtssammlung „Mein Jahrhundert“. Auf den Umgang der Deutschen mit dem Nationalsozialismus angesprochen, betonte er, dass die Vergangenheit nicht bewältigt und abgehakt werden könne. „Diese Diskussion hört nicht auf, wird nie aufhören.“ Deutschland hätte sich als Verursacher und Verlierer des Zweiten Weltkrieges dem Thema Schuld gestellt. Die Niederlage sei heilsam gewesen, „während die Sieger meistens dumm bleiben und sich noch Orden an die Brust heften.“ Und dann direkt auf sein Gastland bezogen, merkte Grass an: „Auch Russland wird sicher von der Geschichte eingeholt. Man kann nicht einfach sagen, die stalinistische Epoche ging von dann bis dann. Es sind zu viele Menschen ermordet worden, als das man das begraben könnte.“ Den Studenten empfahl er, sich für die noch junge Demokratie zu engagieren. „Russland hat jetzt eine gute Chance, aber es kommt auf die Bürger an, in wie weit sie akzeptieren, dass man Demokratie immer wieder erobern muss.“ Sonst bestünde in Russland wie in Deutschland die Gefahr, dass die Geschichte „in alte Gleise gerät“.
Grass verpackte seine Tabubrüche in ruhige, nie arrogant oder anmaßend wirkende Worte. Auch dem heiklen Thema „Königsberg“ nahm er sich an: In Kaliningrad gab es Pläne, im Jahr 2005 den 750. Geburtstag der Stadt zu feiern. Zuletzt zog Moskau aber alle Geldzusagen zurück und empfahl stattdessen den 60. Jahrestag der Erstürmung der Stadt zu feiern - auf Druck von Veteranenverbänden, wie es heißt, die den Namen „Königsberg“ nicht erwähnt sehen wollten.„Ich halte dies für einen großen Fehler“, stellte Grass klar. „Ich wünsche der Stadt Kaliningrad, dass sie ihre relativ kurze Geschichte durch die lange Geschichte Königsbergs bereichert.“ Seine Heimatstadt Danzig/Gdansk sei dafür ein gutes Beispiel.
Vertreter der Universität, auf deren Einladung Grass nach Kaliningrad gekommen war, versicherten unter dem Beifall der Studenten, dass das Stadtjubiläum angemessen gefeiert werde und sich die Universität schon heute in der Tradition eines Kant oder Bessel sehe, die in Königsberg zu Weltruhm gelangten.
Am Freitag enthüllte Grass im Ostseebad Swetlogorsk/Rauschen einen Gedenkstein für Thomas Mann, der in diesem Kurort im Jahre 1929 die Novelle „Mario und der Zauberer“ verfasst hat. Der Stein zeigt ein aufgeschlagenes Buch aus Bronze mit dem das Porträt Manns, sowie einem auf Mann gemünzten Zitat des Dichters Johannes R. Becher: „Du hast bewahrt der Sprache Heiligtum, Sie liebend so wie der nur lieben kann, der sie durchlitten hat, die heimatlosen Zeiten.“ Bei der Zeremonie, die am Geburtstag Thomas Manns und des großen russischen Schriftstellers Alexander Puschkins stattfand, erinnerte Grass daran, dass Mann in seiner Novelle, inspiriert von einer Italienreise über die „Verführungsmacht des Faschismus“ geschrieben habe. Grass besuchte außerdem einen Friedhof in Jantarnij/Palmnicken, auf dem deutsche und russische Soldaten gemeinsam begraben wurden. Am heutigen Samstag endet der Besuch des Nobelpreisträgers.


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