Russland

Von Putins Gnaden

Jelena Kostjutschenko, geboren 1987, ist eine der bekanntesten Journalistinnen der „Nowaja Gaseta“.       
Jelena Kostjutschenko, geboren 1987,
ist eine der bekanntesten
Journalistinnen der „Nowaja Gaseta“.

Die unabhängige russische Journalistin Jelena Kostjutschenko freut sich über Michail Chodorkowskis Freiheit. Sie fordert: Wenn ausländische Politiker etwas für weitere Häftlinge tun wollen, dann jetzt. Denn nach den Olympischen Spielen in Sotschi werde es neue politische Gefangene geben.

Ja, das ist eine spezifische Gnade. Nach dem russischen Gesetz muss ein Häftling nicht um Gnade ersuchen, um begnadigt zu werden. Wie es aussieht, war allein die Tatsache, dass ein Besiegter um Gnade bittet, für Putin genug, um „Prinzipien des Humanismus“ anzuwenden.

Bei Chodorkowski ging es nicht um zehn Jahre Haftverkürzung, deshalb sagen viele: Er wäre doch ohnehin im August 2014 aus dem Gefängnis gekommen, wozu über neun Monate diskutieren. Doch erstens ist Chodorkowskis familiäre Situation leider so geartet, dass auch wenige Monate entscheidend sein können. Zweitens, die Aussicht auf ein drittes Verfahren gegen ihn war real.

Es ist bemerkenswert, dass das jüngste Statement von Alexander Swiaginzew, dem Stellvertreter des obersten Staatsanwalts, über neue Ermittlungen gegen Chodorkowski erst öffentlich wurde, nachdem Chodorkowskis Gnadenersuch durch alle Instanzen gegangen war. Ja, die Staatsmacht wollte den Vermittlern Angst einjagen und den Preis für Chodorkowskis Freiheit in die Höhe treiben.

Wir freuen uns über das Tauwetter und machen uns bereit für den Frost

Aber das war kein Bluff, sie hatten tatsächlich Chodorkowskis Schicksal in der Hand. Ich habe mir die Liste deutscher Diplomaten und Politiker angesehen, die an seiner Befreiung Anteil hatten. Auf dieser Liste stand auch der Name von Angela Merkel. Diese Liste machte viele Russen stutzig. Aber mir ist es egal, warum und aus welchen Beweggründen Deutschland an den Verhandlungen teilgenommen hat. Was wirklich zählt: Ein Mensch, dessen Freilassung im öffentlichen Bewusstsein mit dem Ende der Putin-Herrschaft gleichgesetzt wird (Gott weiß wann), ist ohne Gefängnisaufseher unterwegs.

Dabei gab es doch ein stilles Einverständnis darüber, dass er im Gefängnis sterben wird. Während der zehn Jahre, die Chodorkowski im Gefängnis saß, haben wir Russen uns mit diesem Gedanken angefreundet - auch wenn das viele leugnen werden. Er hat seine Mutter umarmt. Er schläft in einem Bett, und nicht auf einer Gefängnispritsche, und er hat Träume, die sich mit jedem Tag in Freiheit von den Gefängnisträumen entfernen werden. Noch ein Mensch hat es geschafft, aus der Hölle unserer Gefängnisse herauszukommen. Es ist mir egal, um welchen Preis.

Als Journalistin habe ich oft über Menschen geschrieben, die zu Unrecht verurteilt wurden. Meine Zeitung erwähnt sie in jeder Ausgabe. Ihre Verwandten schreiben jahrelang Briefe an die Präsidialverwaltung und das Oberste Gericht. In absoluter Mehrheit der Fälle passiert nichts. Im Fall von Chodorkowski hat diese Maschinerie für einen Moment die Zähne auseinandergerissen. Sogar für mehr als einen Moment - eine Amnestie wurde verkündet. Pussy Riot konnten entwischen, genau wie die Greenpeace-Aktivisten und vier Angeklagte aus dem Bolotnaja-Prozess, mit zwei von ihnen bin ich befreundet. Und weitere 25.000 Menschen, deren Namen wir nicht kennen, werden überall im Land befreit, sie riechen den Schnee und blinzeln in der Wintersonne.

Also, liebe ausländische Politiker, wenn es in Russland einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen gibt, für deren Freiheit und Sicherheit ihr etwas versprechen wollt - etwa euere Anwesenheit bei der Olympiade in Sotschi - wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für Vorschläge. Wir, die normalen Russen, können verstehen, dass uns nach Olympia ein plötzlicher Abfall der politischen Temperatur droht.

Putin wird nach Sotschi seine Ehre wiederherstellen wollen, die - wie er sicherlich denkt - während der Verhandlungen gelitten hat. Die Gefangenen, die heute freigelassen wurden, bedeuten neue Verhaftungen morgen. Doch wir haben uns schon daran gewöhnt, die Staatsmacht wie das Wetter zu behandeln: Wir freuen uns auf das Tauwetter und machen uns bereit für den Frost.

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin.

Christian Esch ist Moskau-Korrespondent der Berliner Zeitung,  Frankfurter Rundschau und des Kölner Stadt-Anzeigers.     
Christian Esch ist Moskau-
Korrespondent der Berliner Zeitung,
Frankfurter Rundschau und des
Kölner Stadt-Anzeigers.

Die Begnadigung Michail Chodorkowskis ist in Wirklichkeit ein Akt der Erpressung, schreibt unser Gast-Kommentator Christian Esch. Putin ist nur in die Rolle des Gnädigen geschlüpft, zu echter Gnade ist er nicht fähig.

Es gibt Menschen und Handlungen, die passen nicht zusammen. Wladimir Putin zum Beispiel und der Akt des Begnadigens – das ist ein Widerspruch in sich. Der russische Präsident hat zwar das Privileg, Gnadenakte zu vollziehen; aber Putin hat nicht die menschliche Fähigkeit und Größe, dies glaubhaft zu tun.

Jeder Gnadenakt von seiner Seite ist Verstellung. So sehr ich mich freue für Michail Chodorkowskis schwerkranke Eltern, dass sie ihren Sohn nach zehn Jahren noch einmal umarmen dürfen, so wenig kann ich darüber hinwegsehen, dass diese Begnadigung absurde Züge trägt.


In Wahrheit ein Akt der Erpressung

Da ist zuallererst der Bittbrief, den Putin nach eigenen Aussagen von Chodorkowski erhalten hat. Seht her, sagte Putin, die Initiative geht nicht von mir aus! Chodorkowski bittet, ich gewähre. Tatsächlich aber, so hat die Tageszeitung Kommersant erfahren, hat der prominente Gefangene in seinem karelischen Arbeitslager Besuch von Geheimdienstlern erhalten. Die Besucher hätten mit ihm über die Krebserkrankung der Mutter und über ein neues, drittes Strafverfahren geredet, das gegen Chodorkowski in Vorbereitung sei. „Dieses Gespräch, das ohne Anwälte stattfand, nötigte Michail Chodorkowski dazu, sich an den Präsidenten zu wenden“, schreibt die Zeitung.

Wenn das stimmt, dann ist der Gnadenakt in Wahrheit ein Akt der Erpressung. Dafür spricht die Medienkampagne, in der Chodorkowski Anfang Dezember ein neuer Prozess angedroht wurde, und dafür spricht auch die ganze Geschichte seiner Haft. Wir erinnern uns, mit welchen Gründen Chodorkowski eine Freilassung auf Bewährung verweigert wurde: Mal hatte er die Hände im Gefängnis falsch gefaltet, mal den Tee im falschen Raum getrunken. So lächerlich wurde es, dass Chodorkowski es am Ende aufgab, eine Freilassung auf Bewährung überhaupt noch zu fordern.

Natürlich hätte Putin die jüngste Amnestie – die etwa die Pussy-Riot-Aktivistinnen erfasst – auch auf Chodorkowski ausweiten können. Aber Putin wollte seinen Gegner in die Rolle des Bittstellers drängen und selbst in die des Gnädigen schlüpfen. Die Show ist missraten. Putin ist zu Gnadenakten nicht fähig, genauso wenig wie die russische Strafjustiz zu fairer Rechtsprechung. 



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