Mein Vater, der Optimist
ostpol: Nach heutigem Stand soll Ihr Vater im August 2014 aus dem Gefängnis kommen. Glauben Sie wirklich an die Freilassung?
Pawel Chodorkowski: Ja. Alles kann sich zwar wieder ändern. Aber ich denke, die Freilassung meines Vaters wäre ein positives Signal. Die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi sollen der russischen Wirtschaft einen Boom bescheren. Das werden die teuersten olympischen Spiele aller Zeiten. Sie sollen im Februar stattfinden. Für Mai 2014 ist die Entlassung von Platon Lebedew, dem Geschäftspartner meines Vaters, angesetzt. In dieser Zeit würde es Russlands Image schaden, wenn neue Anschuldigungen gegen meinen Vater erhoben würden.
Sorgt sich Präsident Putin nicht recht wenig um sein Image im Ausland?
Chodorkowski: Ja und nein. Die Innenpolitik ist für meinen Vater am wichtigsten. Immer. Das heißt aber nicht, dass Putin sein Image im Ausland egal ist. Sonst wäre ihm nicht so daran gelegen, dass die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Winterspiele in Russland stattfinden. Seine ganze Präsidentschaft baut darauf auf, Russlands Image als Supermacht wieder herzustellen. Und eine Supermacht braucht Großereignisse.
2011 gab es in Russland eine Expertise, die sich kritisch zum zweiten Prozess äußerte. Ihrem Vater wurde vorgeworfen, diese Experten bezahlt zu haben, um sich Vorteile zu verschaffen. Hat er das getan?
Chodorkowski: Nein, er hat diese Leute nicht dafür bezahlt, diesen zweiten Prozess zu analysieren. Man muss auch wissen: Der Expertenbericht hat keine juristische Relevanz und wurde im Moskauer Stadtgericht auch nicht als Beweis akzeptiert. Die ganze Expertise zum zweiten Prozess wurde außerdem durchgeführt, nachdem dieser bereits abgeschlossen war.
Könnte sie trotzdem als Grund für ein drittes Verfahren herangezogen werden?
Chodorkowski: Ermittler in Russland brauchen keine Gründe für einen neuen Prozess. Man kann ihn aus der Luft greifen. Nach den Demonstrationen vom 6. Mai 2011 musste sich die russische Regierung entscheiden: zwischen Reform und Repression. Sie entschieden sich für die Repression und begannen Demonstranten zu verhaften. Es ist Teil dieser Strategie, Experten einzuschüchtern, die es wagten, diesen Bericht abzuliefern, der das russische Rechtssystem kritisiert.
Sie haben Ihren Vater seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Welche Gefühle treiben Sie um?
Chodorkowski: Nachdem mein Vater 2005 zum ersten Mal verurteilt worden war, war ich wütend. Ich konnte es einfach nicht glauben. Dann begann ich, in der öffentlichen Kampagne für ihn mitzuarbeiten. Seitdem versuche ich, so optimistisch wie möglich zu bleiben. Das ist auch eine Eigenschaft, die mir mein Vater mitzugeben versucht hat. Seine Botschaft war immer: Strahle Optimismus aus und die Dinge werden sich verändern.
Wie gehen Ihre Halbgeschwister mit der Situation um?
Chodorkowski: Meine Brüder waren vier Jahre alt, als mein Vater verhaftet wurde. Jetzt sind sie 14. Sie müssen in die Schule gehen und ihre Kindheit leben – ohne Vater. Meine Schwester entschied sich dafür, in Russland zu studieren. Sie ist dort viel größeren Risiken ausgesetzt als ich. Ich lebe in den USA, kann hier über russische Politik sprechen. Ich war seit zehn Jahren nicht mehr in Russland und habe meinen Vater nicht wirklich hinter Gittern gesehen – nur im Fernsehen und in Zeitungen. Meine Schwester dagegen war bei ihm im Gerichtssaal und im Gefängnis. Ich weiß, dass es für sie viel schwerer ist.
Haben Sie auch überlegt, Ihren Vater zu besuchen?
Chodorkowski: Ja, aber erstens hat er mich gebeten, dies nicht zu tun. Zweitens wäre es praktisch unmöglich für mich, nach Russland zu gehen, ohne dort an einer Aktion teilzunehmen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ich auf einer politischen Kundgebung verhaftet würde. Und ich möchte meinem Vater keine zusätzlichen Schwierigkeiten machen. Er hat schon genügend Probleme.
Wie kommunizieren Sie mit Ihrem Vater?
Chodorkowski: Wir schreiben immer noch Briefe, aber nicht mehr so oft. Seitdem er in die Strafkolonie nach Karelien verlegt wurde, darf er jeden Samstag 15 Minuten telefonieren. Wir sprechen an jedem zweiten Wochenende für fünf bis zehn Minuten. Manchmal ruft er seine Eltern an, manchmal mich. Wir teilen uns die Zeit auf.
Was wissen Sie über seinen Tagesablauf?
Chodorkowski: Mein Vater muss den ganzen Tag arbeiten. Die Strafkolonie ist nicht wie ein Gefängnis, denn es gibt dort Anlagen für industrielle Produktion. Mein Vater fertigt Plastikmappen für Dokumente an. Er hat zwei Stunden Freizeit am Tag. Dann liest und schreibt er.
Im vergangenen Jahr erschien auf Deutsch sein Buch „Mein Weg. Ein politisches Bekenntnis“. Was glauben Sie: Warum darf Ihr Vater seine Schriften veröffentlichen?
Chodorkowski: Als mein Vater noch in Krasnokamensk war, durfte er nicht frei veröffentlichen. Er kam oft in Einzelhaft, nachdem ein Interview oder Briefwechsel mit ihm publiziert worden war. Inzwischen erlaubt die russische Regierung Widerspruch bis zu einem gewissen Grad. Um den Anschein zu erwecken, es gäbe in der Gesellschaft einen öffentlichen Diskurs.
Ihr Vater hat einmal angedeutet, dass eine Freilassung mit Auflagen verbunden sein könnte. Was wäre denkbar?
Chodorkowski: Mein Vater hat die russische Staatsbürgerschaft und kann nicht einfach aus dem Land geworfen werden. Aber man könnte ihm sehr klar sagen: Wenn du nach deiner Freilassung in Russland bleibst, starten wir einen dritten Prozess. Diese Art von Druck könnte definitiv ausgeübt werden.
Literaturhinweis:
Michail Chodorkowski mit Natalija Geworkjan: Mein Weg. Ein politisches Bekenntnis. Aus dem Russischen von Steffen Beilich. Deutsche Verlagsanstalt, München, 2012, ISBN: 978-3-421-04510-2, 22,99 Euro.