Belarus

Die Menschenforscherin

Sie hört zu. Wenn die Menschen ihr die Geschichten ihres Lebens erzählen, geraten manche ins Stocken. Manche stimmen sowjetische Lieder an, manche weinen. Swetlana Alexijewitsch notiert es. So entstand aus Protokollen „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“, Swetlana Alexijewitschs neuester „Roman in Stimmen“.

Die 1948 in der Ukraine geborene und in Belarus aufgewachsene Schriftstellerin versteht sich als „Menschenforscherin“. Wer ihr Werk liest, begreift warum. Unterschiedlichste Protagonisten sprechen über Träume und Traumata, Liebe und Verlust, den Alltag in der Sowjetunion und die Zeit nach ihrem Zusammenbruch. Bereits 1998 wurde Alexijewitsch mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt, in diesem Jahr ist sie Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels.

„Ich frage nicht nach dem Sozialismus“, erklärt Alexijewitsch, „ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und Frisuren. Das ist die einzige Möglichkeit etwas zu verstehen.“ So erfährt sie in „Secondhand-Zeit“ Geschichten wie die von dem 14-jährigen Jungen, der Gedichte schrieb und sich eines Tages an einem Gürtel erhängte.

„Dafür hätte man Sie zu Lagerstaub zermalmt“

Enttäuschung zieht sich wie ein Leitmotiv durch das Leben ihrer Gesprächspartner. Viele sehen sich als Verlierer. Manche als Relikte einer untergegangenen Zivilisation. „Ich fühle mich wie ein vergessenes Exponat in einem Museumsmagazin. Wie eine verstaubte Scherbe“, sagt der 87-jährige Wassili Petrowitsch N. Von 1922 bis zu seinem Tod war er Mitglied der Kommunistischen Partei. „Es ist gefährlich, lange zu leben. Meine Zeit war eher zu Ende als mein Leben.“

Der Alte zeigt der Autorin seine Leninfiguren. „Wir wollten das Himmelreich auf Erden errichten“, sagt er. „Ich habe zwei Orden bekommen und drei Herzinfarkte.“ In der Sowjetunion half er mit, eine Kirche zu sprengen, an deren Stelle eine öffentliche Toilette entstand. Er denunzierte seinen Onkel, den Rotarmisten anschließend mit Säbeln zerhackten.
„Tod und Mord – ist das etwa ein und dasselbe? Sie haben inmitten von Morden gelebt“, merkt Alexijewitsch an. Wassili Petrowitsch sagt: „Für solche Fragen ... Dafür hätte man Sie zu Lagerstaub zermalmt. Hoher Norden oder Erschießung – die Auswahl war klein.“


„Knebel im Mund“

Ein anonym bleibender Kreml-Mann meint zur Autorin: „Ich habe Ihre Bücher gelesen ... Sie haben zu Unrecht solches Vertrauen zum Menschen (...) Die menschliche Wahrheit, das ist nur ein Nagel, an den jeder seinen eigenen Hut hängt ...“ Doch gerade die widersprüchliche Vielfalt der Perspektiven macht Alexijewitschs Protokolle so lesenswert. Sie zeugen von Schmerz und Stolz der Menschen. Aber auch von ihrer Angst, kein Gehör mehr zu finden.
Gleb, der zwölf Jahre in einem stalinistischen Lager saß, sagt über den Gulag: „Als das alles interessant war, hatten wir einen Knebel im Mund, und jetzt, da wir alles erzählen können, ist es zu spät. Das will eigentlich keiner mehr hören.“

Leider wird nicht immer klar, in welchem Jahr die Autorin ihre Gespräche führte. Hin und wieder zitiert sie auch aus undatierten Zeitdokumenten wie Abschiedsbriefen oder Artikeln kommunistischer Medien. Und verdeutlicht, wie unterschiedlich Menschen Ereignisse wahrnehmen. In einer Geschichte heißt es: „Wenn Jelzin im Fernsehen kam, setzte sich Mutter schnell in ihren Sessel: ‚Ein großer Mann!’ Großmutter dagegen bekreuzigte sich: ‚Ein Verbrecher, Gott verzeih mir.’“


Die Kunst des Zuhörens

Schon ihre Bücher „Zinkjunge“, „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ oder „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ belegten: Alexijewitsch beherrscht eine seltene Kunst. Sie kann zuhören, sich auf ein anderes Leben einlassen. Aber sie sortiert nicht zwischen Opfern und Tätern. Statt das Gehörte zu kommentieren, lässt die Autorin ihre Leser mit den Geschichten alleine. Darin besteht ihr größtes Verdienst.

Wassili Petrowitsch bat: „Dies ist mein letzter Wunsch – schreiben Sie die Wahrheit. Aber meine Wahrheit ... nicht Ihre eigene ... Damit meine Stimme bleibt.“ Alexijewitsch hat es getan. Nun lesen wir ihre Geschichten – und verstehen Geschichte. 

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Swetlana Alexijewitsch
Seconhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus
Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt
576 Seiten
ISBN : 978-3-446-24150-3
27,90 Euro


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