Russland

Ein historischer Kurzschluss

Christian Esch ist Moskau-Korrespondent der Berliner Zeitung,  Frankfurter Rundschau und des Kölner Stadt-Anzeigers.
Christian Esch ist Moskau-Korrespondent
der Berliner Zeitung, Frankfurter
Rundschau und des Kölner Stadt-Anzeigers.

Im Oktober 1993 setzte Präsident Boris Jelzin im Kampf gegen seine Widersacher das Weiße Haus in Brand. Deutschland applaudierte - und akzeptierte Russlands Weg in eine autoritäre und gewaltsame Gegenwart, schreibt Christian Esch.

Was am 4. Oktober 1993 in Moskau geschehen ist, wäre Stoff für einen Science-Fiction-Roman. Mir jedenfalls kommt es vor wie ein historischer Kurzschluss: Da hat jemand im Maschinenraum der Geschichte zwei Kabel vertauscht, Plus und Minus verwechselt, und - zack! – geht nicht nur die Gegenwart in Flammen auf, sondern es werden auch Teile der Vergangenheit und der Zukunft ausgelöscht.


Jelzin auf dem Schützenpanzer

Dazu muss ich kurz ausholen. Die Geschichte des neuen Russland beginnt ja nicht im Oktober 1993, sondern zwei Jahre zuvor, im August 1991. Damals hatten altkommunistische Kader versucht, auf ihre Weise die Sowjetunion zu retten. Die Moskauer aber wollten nicht zurück in die Vergangenheit. Boris Jelzin, Präsident der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, rief zum Protest gegen die Usurpatoren im Kreml auf.

Das Bild wurde zur Ikone des Widerstand: Jelzin auf einem Schützenpanzer, im Hintergrund das Weiße Haus. Der Zivilist siegt über die Generäle, die Freiheit über den Zwang, das Wort über die Waffen. Später wurde unter Jubel die Dserschinski-Statue vor dem KGB gestürzt. Näher als im August 1991 ist Russland nie an eine friedliche Revolution herangekommen. Es war ein Ereignis, aus dem man Energien für die Zukunft schöpfen konnte, so wie das auch in Leipzig, Prag oder Bukarest geschah.


Ein großes Ereignis einfach ausgelöscht

Bis Jelzin dieses Erbe selbst zerstörte. Er hat den Machtkampf von 1993 rücksichtslos in den Kulissen von 1991 ausgetragen. Kein Wunder, dass junge Russen die beiden Ereignisse heute kaum mehr auseinanderhalten können. 1993 war das Weiße Haus wieder die Hochburg des Protests, wieder ging es gegen einen Usurpator im Kreml, wieder rollten Panzer. Nur saß im Kreml diesmal Jelzin, und er hatte keine Hemmung, das Weiße Haus in Brand zu schießen. Es war, als hätte Jelzin ein großes Ereignis mit all seinen positiven Energien im Nachhinein ausgelöscht, indem er aus Mutwillen die Pole vertauschte.


Deutschland applaudierte, als das Parlament in Flammen stand

Der Westen hat ihm bei diesem zerstörerischen Tun applaudiert, und in erster Linie Deutschland. Helmut Kohl hatte Jelzin ja schon im März 1993 unterstützt, als der russische Präsident andeutete, er werde gegen die Verfassung verstoßen. Deutsche Zeitungen ergriffen in ihren Berichten aus Moskau Partei. Da war vom „kommunistischen Mob“ die Rede oder von der „bravourösen Verteidigung“ des Fernsehzentrums in Ostankino durch die Sicherheitskräfte - gemeint war ein Blutbad, in dem 46 meist unbewaffnete Menschen starben, darunter Journalisten.

Natürlich war Jelzin nicht allein schuld am Verfassungskonflikt, der schon ein knappes Jahr dauerte; und natürlich wären Jelzins Gegner nicht zimperlich gewesen, hätten sie denn gesiegt. Aber es verblüfft doch, dass die deutsche Politik sich so sehr an eine Person fesselte, anstatt Prinzipien zu verteidigen und langfristige Interessen zu verfolgen.


Der Grundstein für Russlands autoritäres System

Es ging in Moskau 1993 um die Verteidigung einfachster Grundsätze, die die Europäische Union in Osteuropa dauernd und bis heute predigt: Dass man einander im Machtkampf nicht die Köpfe einschlägt, egal wer Recht hat. Dass man seinen politischen Konkurrenten nicht ins Gefängnis wirft, ihn verteufelt, ihn öffentlich mit Panzern beschießt oder heimlich abmurkst. Dass man den Gegner heute schont, weil man ihn morgen brauchen wird.

Im Oktober 1993 hat Jelzin sich nicht an diese Regeln gehalten – anders als die Putschisten von 1991, die im letzten Moment vor dem Einsatz von Gewalt zurückschreckten. Er hat damit die friedliche Revolution entwertet, die er selbst einst angeführt hatte, und er hat Russland in eine Zukunft geführt, die autoritärer und gewalttätiger war. Es war eine verhängnisvolle Entscheidung, und der Westen hat sie mitgetragen.

Oleg Kaschin, geboren 1980, ist ein bekannter russischer investigativer Journalist und Kremlkritiker.    
Oleg Kaschin, ist investigativer
Journalist und Kremlkritiker.

Mit seinem gewaltsamen Vorgehen gegen das Parlament legte Boris Jelzin den Grundstein für das autokratische Regime Putins, schreibt der russische Kremlkritiker Oleg Kaschin.

Was ist im Herbst 1993 in Moskau geschehen? Bevor es darauf eine Antwort gibt, schauen wir zunächst auf das heutige Russland: Ein Anruf bei Gericht genügt, und die Richter des Landes fällen ihre Urteile so, wie es die Verwaltung des Präsidenten verlangt. Diese Verwaltung ist weder gewählt, noch wird sie von einem anderen Organ kontrolliert. Faktisch ist sie es aber, die den Staat kontrolliert. Unter ihrer Kontrolle stehen die Justiz, das Parlament, die Regierungen in den Regionen, die Medien und die politischen Parteien. Damit sind alle Parteien gemeint, auch jene, die zur Opposition gezählt werden.


Russland erinnert heute an eine lateinamerikanische Diktatur


An der Spitze dieses Systems befindet sich Präsident Putin. Ein Wort von ihm genügt, um jeden Menschen im Land ins Nichts zu stürzen: ob nun einen Milliardär wie Michail Chodorkowski oder einen Mensch mit Behinderung wie Michail Kosenko. Dieser sitzt seit über einem Jahr im Gefängnis, weil er im vergangenen Mai an der riesigen Anti-Putin Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz teilgenommen hat. Die Nachrichten aus dem Russland von 2013 erinnern an die Romane von Gabriel Garcia Marquez über die lateinamerikanischen Diktaturen oder an Graham Greenes „Stunde der Komödianten“ über die Diktatur auf Haiti. Putin sieht sich wohl gerne in einer Linie mit den aufgeklärten Zaren Russlands oder zumindest mit Bismarck. Nur erinnert er vielmehr an den haitischen Diktator Duvalier, auch „Papa Doc“ genannt. Übrigens, auch Putin nennt man oft Papa.


Panzer gegen das Parlament

Sie wollen nun wissen, wie aus der osteuropäischen Demokratie, die Russland Ende 1991 zweifellos war, eine Autokratie nach lateinamerikanischem Vorbild geworden ist? Also zurück zur Frage, was im Herbst 1993 in Russland geschehen ist. Das lässt sich ganz einfach beschreiben. Boris Jelzin gefiel die damalige Mischform aus präsidentiellem und parlamentarischem Regierungssystem nicht. Er entschloss sich dazu, das Parlament aufzulösen und eine neue Verfassung mit einer Art Superpräsidentialismus zu verankern. Das Parlament hat versucht, sich diesem Putsch entgegenzustellen und wurde dafür von Panzern beschossen. Am Ende dieser Krise stand eben jenes System, das wird heute kennen, und in dem der Kreml Gerichte, Parlament, Parteien und Medien beherrscht.


Von der guten zur bösen Diktatur

Solange der Präsident Jelzin hieß, fiel das nicht sonderlich ins Auge, denn seine Gesinnung war die eines Demokraten. Auch intelligente Beobachter haben damals geglaubt, dass seine autokratische Wende das Land letztlich vor der Rückkehr der Kommunisten, sowjetischen Zuständen und dem Nationalismus bewahrt hat. Seit dem aber nicht mehr der Demokrat Jelzin, sondern der KGB-Veteran Putin den Kreml beherrscht, ist diese Illusion verfolgen. Und dennoch weigern sich nicht wenige, zwei und zwei zusammenzählen und einzugestehen, dass es keinen Unterschied zwischen dem Regime Jelzins und dem Putins gibt.

Solange Jelzin Präsident war, hat sich diese Autokratie gegen die „bösen Jungs“ gerichtet. Den „guten Jungs“ hat das so sehr gefallen, dass sie bereit waren, über zügellose Macht, gefälschte Wahlen, Korruption und alles, was man sich sonst so vorstellen kann, hinwegzusehen. Die zentralen Elemente der „gelenkten Demokratie“ sind aber unter Jelzin entstanden. An dem Oktobermorgen, als die Divisionen von Tamansk und Kantemirow ihre Panzerrohre auf das Parlamentsgebäude richteten und jene russische Demokratie, die Michail Gorbatschow hinterlassen hatte, zur Strecke brachten.

Aus dem Russischen von Alexander Löwen

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