Russland

Flegel und Frösche

Als sein Sohn Arkadi einen Studienfreund mit nach Hause bringt, ahnt Nikolai Petrowitsch nichts Böses. Doch bald zeigt sich: Der junge Besucher mit Backenbart hat zwar Verstand, aber keine Manieren. Anstatt auf dem Land gepflegt Konversation zu betreiben, seziert er Frösche, schimpft seine Gastgeber „Provinzaristokraten“ und flirtet mit der Geliebten des Gutsherrn.

Kurz: Der Medizinstudent Basarow ist ein Enfant terrible. Aber auch das beste Argument, sich einen russischen Roman aus dem Jahr 1862 vorzunehmen: „Väter und Söhne“ von Iwan S. Turgenjew. Das Werk, das im Original unter dem Titel „Otzy i deti“ („Väter und Kinder“) erschien, hält Überraschungen bereit: Der größte Gegenspieler des Arztsohns Basarow etwa ist nicht sein Vater, sondern Arkadis Onkel, Pawel Petrowitsch Kirsanow. Mit ihm liefert er sich die wichtigsten Wortgefechte, mit ihm duelliert er sich sogar – so viel Drama muss sein in der Romanwelt des 19. Jahrhunderts. 

Am 3. September 2013 jährte sich Turgenjews Todestag zum 130. Mal. Der Autor stammte aus einem alten Adelsgeschlecht, seine Eltern hatten selbst Leibeigene, bis die Leibeigenschaft unter Zar Alexander II. verboten wurde. Unter den russischen Realisten ist Turgenjew besonders europäisch geprägt. 1818 wurde er bei Mzensk im Gouvernement Oriol geboren, 1883 starb er in der Nähe von Paris. Dazwischen lagen viele Umzüge. Turgenjew lebte lange im europäischen Ausland, in Baden-Baden kaufte er sogar ein Grundstück.


Chinesische Pantoffeln und parfümierter Schnurrbart

Charakterzeichnung ist Turgenjews größtes Talent: Mit wenigen Worten haucht er seinen Figuren literarisches Leben ein. Ausgefallene Marotten erzeugen komische Effekte: Pawel Petrowitsch isst nie zu Abend, aber trägt rote chinesische Pantoffeln. Früher war er mit Reisebadewanne unterwegs, heute stellt er seinen „parfümierten Schnurrbart“ zur Schau. Die „langen, rosigen Fingernägel“ des Alten findet der junge Basarow „ausstellungsreif“.

Der intellektuelle Schlagabtausch zwischen dem jungen Flegel und dem alternden Dandy berührt zentrale Debatten der Zeit: über Leibeigenschaft und Aristokratie, Natur und Romantik, Idealismus und Materialismus. Insofern katapultiert „Väter und Söhne“ die Leser unmittelbar in die Zeit von Zar Alexander II.

„An Prinzipien glaubt er nicht, aber an Frösche“, lästert Arkadis Onkel über den frechen Besucher. Auch Basarow legt Turgenjew Bonmots in den Mund: „Das einzig Gute am Russen ist ja, dass er von sich selbst eine miserable Meinung hat“. Der Medizinstudent versteht sich als Nihilist, respektiert keine Autoritäten. „Jeder Mensch muss sich selbst erziehen“, sagt er. „Und was die Zeit anbelangt – warum soll ich von ihr geprägt sein? Soll sie doch lieber von mir geprägt werden.“ 

Doch im Kampf der Generationen verzichtet Turgenjew auf platte Polarisierung. Väter und kinderlose Onkel, die sich vor dem Abstellgleis der Geschichte fürchten, überzeugen nicht mehr oder weniger als die stolzen Söhne dieses Romans. „Wir reißen nieder, weil wir die Kraft sind“, poltert der junge Arkadi, aber beugt sich später doch den Konventionen.


„Ein Weib mit Grips“

In „Väter und Söhne“ beeindrucken auch die Frauenfiguren. Seinen Protagonistinnen verleiht Turgenjew nicht nur schönes Haar, sondern oft auch eine starke Persönlichkeit. Da ist etwa die „emanzipierte“ Gutsbesitzerin Awdotja Nikitischna, eine trinkfeste Dame mit rotem Stupsnäschen, die „jung, blond, leicht zerzaust“ auf einem Lederdiwan liegt.

Oder die Witwe Odinzowa, „eine hochgewachsene Frau“ mit „freiem und resolutem Charakter“. Basarow bemerkt: „Ein Weib mit Grips“. Das spiegelt sich auch in ihren Worten. „Wie kommt es“, fragt Odinzowa ihn einmal, „dass wir, selbst wenn wir genießen, zum Beispiel Musik, einen netten Abend oder das Gespräch mit sympathischen Menschen, all das eher als die Andeutung eines Glückes empfinden, das irgendwo anders existiert und unermesslich viel größer ist als unser wirkliches Glück, also als das, was wir besitzen?“


Vom Flegel zum tragischen Helden

Turgenjews leichten, teils ironischen Ton hat Annelore Nitschke in ein feines Deutsch übertragen. So treffend wie ihre Worte sind auch die Konturzeichnungen von Matthias Beckmann. Mit Graphitstift illustriert der 1965 geborene Künstler die geschmackvoll gestaltete Ausgabe der Edition Büchergilde. Da gibt es medizinhistorische Zeichnungen zur Embryonalentwicklung oder Kehlkopfspiegelung. Leere Räume wirken wie Requisiten auf einer Bühne, kurz vor dem Auftritt der Protagonisten.

Mindestens so interessant wie Turgenjews literarisches Personal ist dessen Entwicklung. „Lieber Steine klopfen, als einer Frau zu gestatten, sich auch nur deiner Fingerspitze zu bemächtigen“, rät Basarow seinem Freund Arkadi – bis er sich selbst verliebt. Seine Begeisterung äußert er auf die ihm eigene, unverwechselbare Art: „Was für ein herrlicher Körper“, schwärmt er. „Am besten gleich in den Anatomiesaal damit.“

Die Natur ist ihm „kein Tempel, sondern eine Werkstatt“ und doch unterliegt er ihren Gesetzen. Vorfälle, die hier nicht verraten werden, verwandeln – und das ist vielleicht die größte Überraschung dieses Klassikers – den eloquenten Flegel in einen tragischen Helden. Schließlich bekennt auch der Rebell Basarow: „Ja, versuche nur den Tod zu verneinen! Er verneint dich, und basta!“

Iwan S. Turgenjew: Väter und Söhne
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
Illustriert von Matthias Beckmann
ISBN 978-3-86406-030-4
Edition Büchergilde 2013, 26,95 Euro.


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