Serbien

Hinter den Kulissen des Belgrader Frühlings

„Sie schossen auf Zoran. Er lebt“. Es ist kurz nach 13 Uhr, 12. März, als Matthew Ferguson diese SMS erreicht und aus einem ungewöhnlichen Jahr ein durch und durch verrücktes macht. Matthew teilt seinen Studenten die Nachricht mit und bricht den Unterricht ab. Einige lachen ungläubig, andere wirken verstört. Dann eilt der Kanadier aus der Belgrader Uni an seinen zweiten Arbeitsplatz im Büro für Kommunikation. Am späten Abend wird er es sein, der der englischsprachigen Presse die Todesnachricht übermittelt: Zoran Djindjic hat den Kampf gegen die Kugel eines Scharfschützen verloren, der serbische Ministerpräsident ist tot. 

Fragt man Matthew Ferguson nach dem Beginn seiner ungewöhnlichen Geschichte, so hat man bald einen 24jährigen kanadischen Rucksacktouristen vor Augen, der im Sommer 2001 durchs ehemalige Jugoslawien reist, auf kroatischen Inseln und in Sarajewo Station macht und schließlich in Belgrad Freunde findet - in der Stadt, die bis heute an den physischen und psychischen Wunden des Nato-Bombardements gegen das Milosevic-Regime zu tragen hat. Wunden, die auch mit Hilfe kanadischer Soldaten geschlagen wurden. Von seinen serbischen Freunden erhält Matthew das Angebot, für ein Jahr an der Belgrader Uni zu unterrichten. „Ich war fasziniert vom Balkan. Als ich von der Reise zurück war, fühlte ich, dass ich noch nicht genug gelernt hatte“, erinnert sich Matthew.

Im Sommer 2002 steht er mit seinem Rucksack wieder in der Stadt, bezieht ein Zimmer im Studentenwohnheim. Und weil die Bezahlung für zwölf Stunden Englisch-Unterricht nicht weit reicht, kommt Matthew mit dem staatlichen Informationsamt in Kontakt, das einen Muttersprachler sucht, der vorübersetzte Pressemitteilungen in druckreifes Englisch überträgt.
„Nach zwei Wochen Praktikum hatte ich den Job“, wundert sich Matthew noch immer über sein Engagement. Keine politische Überprüfung, kein Misstrauen gegenüber dem Mann aus einem Nato-Land, der nur gebrochen Serbisch spricht. Für Matthew ist es die Gelegenheit, seinen kleinen Beitrag zur Öffnung des von Milosevic in die Isolation getriebenen Landes zu leisten: „Ich wollte Zoran Djindjic unterstützen. Er war der Mann, der die unpopulären aber notwendigen Entscheidungen traf. Er lieferte Milosevic gegen große Widerstände an Den Haag aus, er privatisierte die marode Staatsindustrie, was notgedrungen viele Arbeitsplätze kostete“, erzählt Matthew und hält inne: „Es war leicht Djindjic zu töten, zu leicht. Er stand für radikale Offenheit.“

Wer tagsüber durch die Innenstadt von Belgrad spaziert, bekommt fast den Eindruck, als sei das Land schon immer ein friedlicher und freier Teil des Westens gewesen. Die Fußgängerzone Kneza Mihaila könnte auch in Wien liegen, die unvermeidlichen westlichen Fast-Food- und Mode-Ketten wetteifern um die besten Verkaufsstellen. Etwas abseits dampfen in den einfachen Grillstuben die Cepavci und Pljeskavica. Eine froschgrüne Straßenbahn rollt durch die Stadt, darauf der Hinweis des Spenders: „Die Schweiz und die Stadt Basel grüßen Belgrad.“. Der Park rund um die Belgrader Burg Kalemegdan am Zusammenfluss von Save und Donau ist voller sich liebkosender Pärchen. Kein Wunder: So unansehnlich das in vielen Kriegen zerstörte und herzlos hochbetonierte Belgrad ist, so wunderschön sind hier die Frauen. Eine frühlingshafte, entspannte Stadt der Liebe. 

Wer nicht genau hinschaut, übersieht die Spuren des Hasses: An den wenigen Ständen mit Souvenirs werden T-Shirts mit dem Konterfei des gesuchten Massenmörders Radovan Karadjic angeboten - mit dem Aufdruck „Unser Held“ auf serbisch und auf englisch. Verblassende Schmierereien auf Trolleybussen fordern die Freilassung Slobodan Milosevics. Einige Djindjic-Fotos, eingerahmt von Orchideen und welken Sträußen, erinnern vor dem Hauptquartier der Demokratischen Partei und am Regierungsgebäude, an dessen Hintereingang der Mord geschah, noch an die Ereignisse vor vier Wochen. Davor stehen ein paar martialisch bewaffnete Soldaten und markieren trotzig den Ausnahmezustand, der noch bis Mai gelten soll. Sie wirken lächerlich hinter ihren Tarnnetzen und wollen einfach nicht zur friedlichen Frühlingsstimmung passen.

Erst in Matthews Büro im 3. Stock des Jugopetrol-Gebäudes in der Kralja Milana Uliza kommt wieder eine Ahnung davon, wie dramatisch es in Serbien derzeit tatsächlich zugeht, was hinter den Frühlingskulissen gespielt wird. Matthew erzählt von den Leuten von CNN, die am Tag des Attentates in seinem Büro Sturm klingelten, von den 18.600 Zugriffen auf die von ihm mitbetreute englische Informationsseite der serbischen Regierung binnen weniger Stunden. Er berichtet von der serbischen Zeitung „National“, die zum Tag des Attentates unter Djindjics Sternzeichen folgendes Horoskop veröffentlichte: „Sei vorsichtig, deine Feinde versuchen dich heute zu töten.“ Die Zeitung ist inzwischen eingestellt, ihr werden Verbindungen zur nach einem Belgrader Vorort benannten Zemun-Bande nachgesagt, die hinter dem Attentat stecken soll. 

Auf einmal ahnt man, welchen riesigen Sumpf aus Korruption, Intrigen und Gewalt Djindjic während seiner Regierungszeit zu durchwandern versuchte. 8.000 Verdächtige seien seit dem Attentat zeitweise festgenommen worden, rechnet Matthew vor. Darunter Staatsanwälte, Geheimdienstler und die populärste Sängerin des Landes, in deren Haus ein Waffenlager gefunden wurde. Als direkten Tatverdächtigen hat man den 38jährigen Kriegsveteran Zvezdan Jovanovic ausgemacht, nach Hintermännern wird weiter gefahndet.

Der Djindjic-Mord hat, so scheint es, das Gegenteil von dem bewirkt, was die Verschwörer beabsichtigt hatten: Die sensationelle Zahl von 300.000 Belgradern begleiteten den Sarg des aufgrund seiner Westnähe lange als unpopulär geltenden Djindjic zum Friedhof. Mit Zoran Zivkovic ist ein Vertrauter des alten Regierungschefs an dessen Stelle gerückt. Eine große Teufelsaustreibung ist unter dem Deckmantel des Ausnahmezustandes in Gang gesetzt, die nach Meinung Oppositioneller längst über das Ziel hinaus geschossen ist, weil sie mittlerweile fast jeden Regierungsgegner kriminalisiere.
Matthew spricht hingegen davon, dass durch das Attentat „endlich etwas aufgebrochen“ sei. „Früher wollte man die Nationalisten nicht verschrecken, nun wird alles ausgesprochen.“ Seit Wochen vergeht kaum ein Tag mehr, ohne dass er Überstunden macht und weitere Festnahmen und Verdächtigungen auf der englischen Webseite vermeldet. In den mafiösen Strukturen des Balkanstaates kennt er sich beinahe so gut aus, wie in den Straßen seiner Heimatstadt Montreal. Und er nimmt sich die Freiheit, das ein oder andere emotionale Regierungszitat bei der Übersetzung abzuglätten. „Das würde westliche Leser verschrecken“, begründet er. 

„Wir sind die großen Zensoren“, lacht Matthews Kollegin Alexandra, die die serbischen Texte redigiert. Und dann zu Matthew gewandt: „Wenn er einen Fehler macht, wird er exekutiert.“ Das kommt als Witz und entlarvt doch die Mauer aus Zynismus, hinter der sich die jungen Mitglieder des staatlichen Büros für Kommunikation verschanzen, verschanzen müssen, um im serbischen Alltag nicht durchzudrehen. „Jeder Tag ist verrückt, jeder Tag ist spannend. Und alles geht so schnell, dass man sich kaum an einzelne Tage erinnern kann. Es wird nie langweilig, nie“, erzählt Alexandra, so als sei sie Schauspielerin in einer Daily-Soap-Opera. Nur dass die Seifenoper ihr reales Leben abbildet. „Und nun bombardieren sie auch noch Bagdad...“, sagt sie unvermittelt, als hätte der Konkurrenzkanal vom serbischen Drehbuch abgekupfert. Sie schüttelt den Kopf und schweigt. Bloß nicht wieder an die Bombennächte in Belgrad zurück denken. Was überstanden ist, ist abgehakt, morgen will schon das nächste überstanden werden.

Matthew ist es, der später unter vier Augen Parallelen zieht: „Man kann das irgendwo schon mit dem Kampf um Bagdad vergleichen“, sagt er nachdenklich. Ein Freund von Bush sei er nicht, dennoch: „Die Amerikaner sind nicht dumm. Auch wenn sich die Leute hier das nicht so recht eingestehen wollen, die Nato-Bomben haben damals dazu geführt, dass sie ihr Leben überdacht haben, sich gefragt haben, was für eine Führung habe ich.“ Am Ende hätten die Serben die Isolation einfach satt gehabt und Djindjic eine Chance gegeben. Und dieser habe die ihm verbliebene Zeit genutzt. „Der Balkan ist immer ein Unruheherd, aber die Reaktion nach dem Attentat zeigt, wie stabil das hier schon ist. Der Westen hat hier richtig gehandelt.“ Ein gewisser Stolz liegt in Matthews Stimme. Einen Tag lang hätten sie befürchtet, dass es Straßenkämpfe geben könnte, dass ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte. Als Angestellter der Regierung habe er sich da schon unwohl gefühlt. Nach vier Tagen fand er die Ausreiseempfehlung der kanadischen Botschaft in seinem Briefkasten. „Aber da war längst klar, dass es ruhig bleibt.“ Ob er sich hier irgendwie als Missionar für westliche Werte sieht? Matthew wiegelt ab, dann aber nickt er doch: „Ja, vielleicht. Jede Kleinigkeit zählt.“ An der Tür seines Büros hängt ein kleiner Aufkleber rund wie der Punkt eines Ausrufungszeichens: „Serbien auf gutem Weg.“


Hinweis: Die von Matthew Ferguson betreute englischsprachige Website der serbischen Regierung findet sich unter: www.serbia.sr.gov.yu/news/


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