Russland

„Küsst Euch auf dem Siegertreppchen“

Jelena Kostjuschenko, geboren 1987, ist eine der bekanntesten Journalistinnen der „Nowaja Gaseta“.
Jelena Kostjutschenko, geboren 1987,
ist eine der bekanntesten Journalistinnen
der „Nowaja Gaseta“.

Die russische Journalistin und Aktivistin Jelena Kostjutschenko fordert einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Sotschi, zumindest aber von Athleten und Zuschauern ein klares Bekenntnis zur sexuellen Freiheit.

Gleich zu Anfang möchte ich sagen: Ich bin für einen Boykott der Olympiade in Sotschi. Wenn es etwas gibt, das dieses politische System schmerzhaft treffen kann, dann ist es der Boykott. Für Putin und seine Partei „Einiges Russland‟ ist die Olympiade eine Idee, die alles überstrahlen soll, all die politischen Misserfolge, all die Korruption der letzten Jahre. Fast wie ein „kleiner, siegreicher Krieg‟, nur ohne Opfer.

Die Haltung der Bevölkerung zur Olympiade ist nicht eindeutig. Immer wieder habe ich auf meinen Reisen durchs Land die Meinung gehört, dass diese Olympiade vor dem Hintergrund fehlender Infrastruktur und sozialer Absicherung in vielen Teilen des Landes der reinste Hohn sei.


Sportliche Siege sind wichtiger

Aber ich glaube nicht daran, dass es zum Boykott kommt. Weil für euch europäische Sportler jede Olympiade das wichtigste Ereignis in eurem Leben ist. Und sportliche Siege sind für Sportler wertvoller als das Schicksal russischer Homosexueller.

Wenn das nicht zutrifft, dann habe ich mich geirrt, und eure Solidarität ist größer, als ich es mir vorstellen konnte.

Wenn ihr aber doch die Entscheidung trefft, an der Olympiade teilzunehmen, dann lauft unter Regenbogenfahnen auf. Kommt mit in den Farben des Regenbogens lackierten Fingernägeln, wie es die schwedischen Sportlerinnen Emma Green Tregaro und Moa Hjelmer gerade bei der Leichtathletik-WM in Moskau vorgemacht haben.


Jede Unterstützung ist wertvoll

Ja, Politik ist bei Sportveranstaltungen verboten, aber der Regenbogen kann ja auch ein Teil der Sportanzüge oder Trikots werden. Küsst euch auf dem Siegertreppchen, das ist auch gut. Die Olympiade wird in ganz Russland übertragen, und sieben Millionen Russen, die homo- bi- oder transsexuell sind, werden die Unterstützung von ganz oben spüren. Darunter auch viele Teenager, die das neue Homosexuellengesetz ganz besonders trifft.

Die mutigsten Gäste und Teilnehmer der Olympiade können zudem an der Gay-Parade teilnehmen, welche russische Homosexuelle auf den Straßen von Sotschi planen. Aber ich muss euch wohl warnen, dass nach dem neuen Gesetz über Homosexuellen-Propaganda Ausländer, die sich nicht gesetzeskonform verhalten, des Landes verwiesen werden können.

Jede Unterstützung ist wertvoll. Unsere Lage erlaubt es uns nicht, eure Hilfe ablehnen zu können. Aber wir haben auch nicht das Recht, mehr Unterstützung zu fordern. Denn der Großteil der russischen LGBT (Abk. für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle) ist bereits zu eingeschüchtert, auf die Straßen zu gehen, um ihre Familien zu schützen - geschweige denn noch an ihre eigene Sicherheit zu glauben.

Moritz Gathmann, geboren 1980, ist freier Journalist und lebte bis vor kurzem in Moskau.
Moritz Gathmann, geboren 1980, ist freier
Journalist und lebte bis vor kurzem in Moskau.

Der deutsche Journalist Moritz Gathmann fordert, in der Debatte um das Homosexuellengesetz genauer hinzuschauen - und stellt sich damit gegen den deutschen Medien-Mainstream.

Stellen wir eines klar: Das russische Gesetz, das die „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen‟ unter Strafe stellt, ist reinster Populismus auf dem Rücken einer Minderheit. Es soll die russische Öffentlichkeit von den grundsätzlichen Fragen ablenken, die viele tausend Menschen über die letzten zwei Jahre stellten, allen voran die nach der Legitimität des gegenwärtigen Regimes. Das Gesetz ist ein Skandal und gehört abgeschafft.

Aber: Homosexualität steht in Russland auch mit dem neuen Gesetz nicht unter Strafe. Die Homosexuellen haben sich über die letzten zwei Jahrzehnte im ganzen Land eine beachtliche Infrastruktur aus Schwulen-Clubs, Bars und Saunas geschaffen, ja es gibt sogar einen Verband homosexueller Sportler. Die Existenz dieser Einrichtungen stellt derzeit niemand in Frage.


Homosexualität wird von der Mehrheit ignoriert

Allerdings muss das meiste davon hinter verschlossenen Türen stattfinden. Denn Homosexualität ist in Russland nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Einstellung der meisten Russen gegenüber homosexuellen Bekannten ist: Macht was ihr wollt, aber lasst mich damit in Ruhe. Diese Einstellung gab jüngst die Stabhochspringerin Jelena Isinbajewa bei einer Pressekonferenz zum besten. Dass die Mehrheit der Russen noch nicht unser Toleranzverständnis übernommen hat, muss man wohl bedauern, aber es ist so.

An dieser Einstellung hat auch die Abschaffung des Paragraphen 121, der bis 1993 Homosexualität unter Strafe stellte, nichts geändert. Weil sie eben nicht die Folge von gesellschaftlichem Wandel war, sondern nur eine Reverenz Jelzins an den Westen.


Noch nie hat ein Boykott sein Ziel erreicht

Vor diesem Hintergrund würde ein Boykott der Olympiade in Russland mit großem Unverständnis aufgenommen. Er würde wohl auch den Graben zwischen dem „Westen‟ und den Russen vergrößern. Dass viele westliche Länder die Olympiade 1980 in Moskau wegen des Einmarsches in Afghanistan boykottierten, wurde zähneknirschend hingenommen. Aber es ginge den Russen nicht in den Kopf, ließe der Westen wegen des Propagandagesetzes seine Olympioniken zuhause. Im übrigen: Noch nie hat ein Olympiaboykott sein erklärtes Ziel erreicht.

Jedem Gast oder Olympioniken ist es – letzterem auf eigenes Risiko, denn das IOC hat klar Position gegen mögliche Proteste bezogen – freigestellt, in Sotschi seine Meinung kund zu tun. Verweisen die Behörden dafür tatsächlich jemanden des Landes, werden sie sich damit mit lautem Knall selbst ins Bein schießen.


Missverständnisse zwischen dem Westen und Russland

Man darf aber auch nicht zu viel Wirkung der Proteste erwarten: Das LGBT-Thema haben viele Russen inzwischen satt. Jede medienwirksame Aktion wird in den westlichen Medien Jubelstürme hervorrufen. Die Russen werden sie dagegen mit Achselzucken quittieren. Oder noch schlimmer: Das Küsschen der russischen Staffel-Läuferinnen nach ihrem Sieg bei der Leichtathletik-WM feierten westliche Medien als politischen Protest. Und erst eine wütende Erklärung der Läuferinnen entlarvte die Meldungen als eine Folge der medialen Hysterie.

Am Ende, so zeigt es der Kampf um gesellschaftliche Akzeptanz in vielen westlichen Ländern, liegt es vor allem in den Händen der russischen Homosexuellen, die Verhältnisse zu ändern. Nach Meinung russischer LGBT-Aktivisten haben die sich in den letzten zwei Jahrzehnten viel zu sehr im Status Quo eingerichtet. Und zu wenig gekämpft. Die politische Passivität wiederum ist leider kein Phänomen in Russland, das auf sexuelle Minderheiten beschränkt ist.


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