Bulgarien

„Die Bulgaren wollen echte Demokratie“

ostpol: Herr Genov, Sie haben vor sieben Wochen mit einem Facebook-Aufruf eine Protestwelle ins Rollen gebracht, die das Land so noch nicht erlebt hat. Sind Sie der Organisator der Proteste in Bulgarien?

Asen Genov: Nein, ich habe einfach im richtigen Moment dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen. Ich war eher ein Anstoßgeber. Als ich erfuhr, dass Deljan Peewski zum Geheimdienst-Chef ernannt worden war, habe ich auf Facebook eine Einladung verschickt und geschrieben: „Mir reicht’s! Ich gehe auf die Straße!“ Innerhalb weniger Stunden bekam ich vierzigtausend Zusagen, zehn- bis zwölftausend Menschen gingen tatsächlich am selben Abend auf die Straße. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Warum hat Peewskis Ernennung zum Geheimdienst-Chef dermaßen hohe Wellen geschlagen?

Genov: Diese Entscheidung brachte die kriminelle Verquickung wirtschaftlicher und politischer Macht in Bulgarien ans Tageslicht. Deljan Peewski kontrolliert 70 bis 80 Prozent der Medien, die über Umwege durch öffentliche Mittel finanziert werden und im Gegenzug die öffentliche Meinung zugunsten der jeweiligen Regierung manipulieren. Als die Regierung versuchte, Peewski die Geheimdienste anzuvertrauen [die Entscheidung wurde einen Tag später rückgängig gemacht, Anm. d. Red.], war das Ziel offensichtlich, der Oligarchie neben der fast völligen Kontrolle über Wirtschaft, Politik und Gesetzgebung auch noch das bulgarische FBI auf dem Silbertablett zu servieren. Das hat die Bürger dazu veranlasst, auf die Straße zu gehen.

Was fordern die Menschen?

Genov: Die zwei wichtigsten Losungen lauten „Mafia“ und „Rücktritt!“. Letzteres richtet sich konkret an das Kabinett von Premier Plamen Orescharski. Der Ruf „Mafia“ bringt alle Gefühle zum Ausdruck, die sich in der von Kriminalität und Korruption gezeichneten Transformationsphase Bulgariens seit 1989 angestaut haben. Konkret sieht der Fahrplan der Protestbewegung so aus: Rücktritt der Regierung, Änderung des Wahlgesetzes, so dass Manipulationen verhindert werden, und Neuwahlen.

An den Protesten nehmen wenige Zehntausend Menschen teil. Inwiefern sind sie repräsentativ?

Genov: Ich glaube, dass der Großteil der Bulgaren sich in der Botschaft und der Sprache der Protestbewegung wiederfindet. Sie prangert Missstände an, die sich auf das Leben aller auswirken.

Sind es dieselben Demonstranten, die im Februar die konservative Regierung von Bojko Borisov gestürzt haben?

Genov: Nein. Die Proteste im Winter richteten sich gegen die hohen Strompreise. Diesmal kämpfen die Menschen für Grundsätzlicheres: für eine echte, funktionierende Demokratie. Dafür, dass die demokratische Grundordnung und die Gesetze im Land endlich eingehalten werden. Die Demonstranten jetzt sind größtenteils Menschen, die gut ausgebildet sind, fest im Beruf stehen und eine klare Perspektive für ihr Leben haben.

Gibt es Parallelen zwischen den Protesten in Bulgarien und denen im Nachbarland Türkei?

Genov: Ja, sofern man die Ereignisse in der Türkei als Rebellion der modernen Türken gegen die schleichende und verdeckte Islamisierung des Landes betrachtet. Die Bulgaren rebellieren gegen etwas Ähnliches: die schleichende Usurpation des Staates durch die Oligarchie. Angenehm überrascht hat mich die Solidarität der Türken. Unter den Twitter-Hashtags #DirenBulgaristan und #direnkomşi, was soviel heißt wie „Haltet durch, Bulgaren“ und „Haltet durch, Nachbarn“, diskutieren sie über die Proteste in Bulgarien. Das hat mit dazu beigetragen, dass keine antitürkischen Losungen mehr bei der Demonstrationen in Sofia zu hören sind, obwohl die türkische Minderheitenpartei, die an der Regierung beteiligt ist, den meisten Protestierenden ein Dorn im Auge ist.

Die nach den Massendemonstrationen im Februar neu gewählte Regierung hat die politische Situation nicht verbessert. Warum glauben Sie, dass die Proteste jetzt den lang ersehnten Wandel bringen werden?

Genov: Wenn sich auch diesmal nichts ändert, wäre das eine riesige Enttäuschung, und es würde mich nicht wundern, wenn es zu einer großen Auswanderungswelle käme. Die Bulgaren haben in den vergangenen Jahren einfach zu viele Enttäuschungen erlebt. Das wäre aber noch nicht das Schlimmste. Wenn der Durchbruch nicht gelingt und im nächsten Winter dann die hohen Stromrechnungen kommen, werden zwei Bevölkerungsgruppen aufeinanderstoßen – die Armen, die ihren Strom nicht bezahlen können, und eine desillusionierte Mittelschicht, die für die Situation im eigenen Land nur noch Abscheu empfindet.


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