Russland

„Ibissur hat etwas Kindliches, Stotterndes“

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ostpol: Du beschreibst eine fiktive Reise durch Russlands Weite. „Ibissur“ wird dabei als „Wurzel Sibiriens“ bezeichnet. Das ist ein historischer Name für das kleine Gebiet des ursprünglichen Sibirien. Warum verwendest du diesen Begriff? 

Roman Widder: Ich mochte die Bezeichnungen Ibissur oder Ibissibur, weil sie so etwas Kindliches, Stotterndes haben. Gleichzeitig schienen sie mir eine Latinisierung von „Sibir“ zu sein, „ibi“ - dort, da: Sibirien. Das hat sich zwar als Unsinn herausgestellt, aber diese Spannung von Gelehrtheit und Naivität hat mir gefallen. Vor allem aber ging es mir darum, nicht „Sibirien“ zu sagen: Damit assoziiert man erst mal Dunkelheit, Kälte, den Gulag, Verbannung usw. Von diesen Zuschreibungen musste ich den Raum erst mal befreien, um über ihn schreiben zu können.

Deine drei Protagonisten sind auf der Suche nach einer Fischfabrik am Pazifik. Die Reise wird aus der Sicht von Osman, einem Spielzeugbauer, erzählt. Sein Übersetzer und Hobbyethnograf Tschepucha begleitet ihn. Unterwegs finden sie das Waisenmädchen Nastja und nehmen sie mit. Was treibt die drei an? 

Widder: Das müsste man sie selbst fragen. Nastja wird ja von den beiden anderen mehr oder weniger gewaltsam mitgeschleppt, man kann also nicht davon ausgehen, dass sie eine besondere Motivation hat. Sie ist eine relativ undurchsichtige Figur und sagt auch nicht allzu viel, aber ihre Undurchsichtigkeit macht sie zugleich begehrenswert für ihre beiden männlichen Freunde. Bei Tschepucha hat man das Gefühl, dass er sich wichtigmachen will. Er will den Ankömmling Osman belehren, ihm zugleich helfen, ihn aber auch dabei stören, seine Wünsche zu verwirklichen. Und Osman selbst ist ein Auswanderer, er hat sein Herkunftsland aus einer Reihe von Verlusterfahrungen und einem Gefühl der Leere verlassen. Wenngleich sein Ziel im Laufe des Buches immer unspezifischer wird, gibt er doch die Überzeugung nicht auf, dass es irgendetwas zu finden oder zu erreichen gäbe, das für den Moment besser als das wäre, was er verlassen hat.

Immer wieder streust du kurze Zitate anderer Autoren ein, z.B. des Sibirienforschers Johann Georg Gmelin. Was hat es damit auf sich? 

Widder: Sie stammen aus der langen Geschichte deutscher Sibirienreisender. Diese Bücher waren für mich interessant, weil einem in Sibirien eben schnell klar wird, dass man nicht der erste Westeuropäer dort ist, sondern dass schon im Mittelalter europäische Forscher vom russischen Hof engagiert wurden. Letztlich hatten diese an der Kolonisierung Sibiriens einen gehörigen Anteil. Und gleichzeitig sind das faszinierende Bücher, die einerseits alle an ihrem eurozentrisch-arroganten Habitus festklammern. In ihnen spürt man andererseits aber auch etwas von der Besessenheit, die viele nicht mehr loslässt, wenn sie einmal im Norden Asiens waren. Und vor allem sind die damals ausgetretenen Routen immer noch jene, auf denen man sich auch heute noch bewegt.

Manchmal klingen die Anekdoten über die zahlreichen indigenen Völker, mit denen die Protagonisten in Kontakt kommen, fantastisch: Beispielsweise die sich mit Birkensaft besaufenden Korjaken. Diese Völker gibt es tatsächlich, die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften sind aber nur Mythen, oder? 

Widder: Das weiß ich nicht, ich bin ja selbst leider kein Ethnograf. Aber ich glaube, es sind wohl eher Mythen und Legenden. Diese haben jedoch manchmal auch eine Verbindung zur Realität. Vor allem beeinflussen sie die Realität, selbst wenn sie keinen wahren Ursprung haben. Mir geht es natürlich vor allem um dieses fantastische Element innerhalb dieser exotischen Zuschreibungen. Also um die fließende Grenze von einer völlig irrealen Wahrnehmung dieser Völker im Mittelalter und etwas jüngeren ethnographischen Beschreibungen, die heute als Quellen absolut ernst genommen werden.

Du hast ein ganzes Jahr in Sibirien gelebt. Verarbeitest du deine eigenen Erfahrungen in dem Buch? 

Widder: Teilweise. Natürlich hätte ich das Buch so nicht schreiben können, wenn ich nicht eine Weile in Sibirien gelebt hätte. Andererseits habe ich auch viel konstruiert oder durch Gelesenes rekonstruiert. Beispielsweise war ich nie an dem Ort im Norden des Ural, an dem die Erzählung beginnt. Auch dort, wo die Erzählung endet, an der Mündung des Amur, war ich nie. Die Fischfabrik, die das symbolische und scheinbar unerreichbare Ziel der drei Protagonisten abgibt, findet sich in ähnlicher Form natürlich an vielen Orten in Russland. Aber ich habe sie dann einfach ein paar Tausend Kilometer nach Osten verschoben.


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