Ibissur
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„Wir brachen also auf zur Besichtigung der vielleicht noch restaurierbaren Fischfabrik. Ich hatte einen kleinen Koffer dabei, der bei vielen den Eindruck erweckte, ich sei ein Arzt. Tschepucha hatte kein Gepäck, nur eine Binde um seinen Kopf, um eine Wunde zu schützen, sein Kopf war leicht verwundbar, wie sich herausgestellt hatte. Nastja trug eine kleine Damentasche mit sich. Gleich zu Anfang fanden wir in Nastjas Tasche eine Art Schulheft, vermutlich chinesischer Herkunft, es hatte dickes braunes Papier und in der rechten oberen Ecke jeder Seite prangte erhaben ein kleines Piktogramm von den Führungsköpfen der kommunistischen Partei.
Tschepucha fing dann auf dem Weg an, Zitate aus Büchern und Zeitungen, auf die wir von Zeit zu Zeit stießen, aufzuschreiben und Nastja vorzulesen. Nastja aber hat immer gesagt, er solle doch selber etwas schreiben. Sie wollte etwas rein Erfundenes haben, ein Märchen, eine unwahrscheinliche, aber verzaubernde Geschichte über Glück, Reichtum und Liebe.
Tschepucha aber konnte und wollte nichts selber schreiben. Manchmal versuchte er es, aber ihm fiel nichts ein, er konnte nur spontan Dinge erzählen, die selten eine zusammenhängende Geschichte ergaben. Einmal bat er mich um Rat, aber mir fiel auch nichts ein, ich konnte höchstens aufschreiben, was er erzählte oder was ich auf der Fahrt zu Gesicht bekam. Selbst wenn mir oder Tschepucha einmal etwas eingefallen wäre, hätten wir vor Nastja nicht unsere prinzipielle Einfallslosigkeit verbergen können. Tschepucha sagte, das sei doch schon ein Einfall, mich zu fragen, und wenn mir auch nichts einfalle, dann müsse unsere doppelte Einfallslosigkeit bei Nastja doch Mitleid erregen.
„Hitler war ein Schweinehund“
Tatsächlich verwendeten wir das Buch dann zu allem Möglichen. Tschepucha notierte regelmäßig geographische Angaben, zudem eine Reihe ungehörter Ethnonyme, die er mit anderen, bekannten auflistete und die Nastja auswendig lernen sollte. Auch einige Daten aus der Geschichte fügte er ein, um Nastja über das Wesentliche zu unterrichten, sodass sie uns einmal mit dem Satz „Hitler war ein Schweinehund“ überraschte.
Ich benutzte das Heft hauptsächlich, um unsere Ausgaben zu notieren, in Stichworten Tagebuch zu führen, brachte Nastja das Rechnen bei und einige wichtige Worte in fremden Sprachen. Auch Notizen über das Wetter und alte, wiederkehrende Erinnerungen kamen manchmal in das chinesische Schulheft. Es war wie ein Logbuch unserer Fahrt. Ich schrieb gern hinein, weil es mir die Möglichkeit gab, mich von der Gegenwart abzulenken und mich an meine eigentliche Sprache zu erinnern. Nastja erwies sich mit der Zeit als unbrauchbarer Adressat, sie sprach bald auch Dinge, die wir ihr nicht beigebracht hatten, und kombinierte das Gelernte so frei, dass sich ein neuer Sinn daraus ergab. Unvorsichtigerweise ließen wir sie alles lesen und lasen selbst nicht gegenseitig, was der andere schrieb. Irgendwann las niemand mehr in dem Heft, aber alle schrieben hinein. Ohne Adressat vergruben wir zu dritt unsere Gedanken in dem Parteibuch.
Über das Kind Nastja hatte sich in Tschepuchas Vorstellungen die Legende gebildet, dass es in die Welt gekommen sei mit seiner ganz eigenen Sprache. Er sagte, sie habe einen starken und seltsamen Akzent und auch er als ehemaliger Ethnograph wisse nicht, wo sie herstammen könnte. Nach Nastjas Sprachheimat Ausschau haltend reisten wir durchs Land, doch keine der Sprachen, die uns begegnete, verstand Nastja, keine hörte sich verwandt mit der ihrigen an.
Die einarmige Nastja
Tschepucha glaubte mit der Zeit nicht mehr daran, dass es das Volk zu ihrer Sprache gab. Nastja fehlte ein Arm und darum war Tschepucha davon überzeugt, sie würde ihre geistige Energie nicht mit körperlichen Übungen aller Art vergeuden, sondern könne mal eine wirklich kluge Person werden, er sah in ihr ein philosophisches Kind. Als wir Nastja fanden, roch sie nach Müll oder Fisch, ja sie stank, doch an ihren Gestank gewöhnte ich mich schnell, mochte ihn bald sogar und vermisste ihn sofort, nachdem wir sie bei der Alten gewaschen hatten, wenngleich nicht lange, denn der Geruch kam immer wieder. Fest stand, dass Nastja ein unglaublich gutes Gehör hatte. Autos auf einsamen Landstraßen hörte sie schon Minuten vor Tschepucha und mir. Als ich das merkte, fragte ich mich, wie sie den Lärm bei der Alten ausgehalten hatte. Ich merkte dann jedoch, dass sie immer in eine bestimmte Richtung hörte, dass sie gut war nicht im Hören, sondern im Hinhören. Stundenlang verfolgte sie das Ticken von Tschepuchas alter Armbanduhr, die man aufziehen musste. Ein solches Ticken, sagte sie, habe sie noch nie gehört. Ich beneidete sie um ihren Fokus.
[...]
Während Tschepucha, im Bus sitzend, wie so oft und vermutlich aus einem Gefühl der Peinlichkeit heraus alle und alles verteufelte, habe ich mich lange geärgert über den Dreck auf den Scheiben, geflucht über die Unfähigkeit der Wogulen, sie zu putzen, um die Landschaft sichtbar zu machen, die sich bewegenden Häuser, Bäume und Schilder, den ruhenden Himmel. Besonders erboste mich, dass der Dreck sich nicht erst kürzlich vom aufspritzenden Schlamm von außen auf die Fenster gelegt hatte, sondern zugleich von innen als dichte Schicht verschiedenster Spuren, die sich über Jahre hinweg abgelagert hatten. Ich habe nicht verstehen können, wie man so sorglos mit seinen Fahrzeugen umgehen, so nachlässig um die Aussicht sich kümmern, so gelangweilt von der Welt sein kann, dass man sie nicht mehr sehen will, als ich im Bus saß, Nastja zu meiner Rechten, vor mir Tschepucha.
Lange habe ich gegrübelt über diese Sorglosigkeit, Lustlosigkeit, den Mangel an Hingabe für das Gute und Schöne, bis ich schließlich, nachdem ich Nastja von meinem Kummer erzählt hatte und auf ihren Ratschlag hin, ein bisschen Wasser aus unserer Trinkflasche nahm und die Scheibe zu meiner Linken mit dem Saum meines Hemdes von innen halbwegs sauber rieb. Die Fenster waren erstaunlich weich, weder aus wirklichem Glas, noch aus hartem Plastik, vielmehr fühlten sie sich an wie ein dünnes Blättchen Marienglas oder jenes Glimmers, der hier überall wuchs.
Frühjahr in Ibissur
Ich gab Acht, sie nicht zu zerbrechen, kratzte also sanft an der Scheibe herum und putzte mir mit dem Wasser aus der Trinkflasche ein kleines Guckloch frei. Tschepucha erhob Einspruch, da er meinte, wir würden so bald an keinem Geschäft mehr vorbei kommen, um Wasser zu kaufen, doch ich entgegnete entschieden, wir würden auch ohne Wasser auskommen bis Kurgan oder Tobolsk. Draußen sah ich viele Seen, vielleicht waren es auch Pfützen und Überschwemmungen, so viel Wasser, dass es war, als befänden wir uns auf einem Schiff und als führte unser Weg direkt durchs Meer.
So sei das immer im Frühjahr in Ibissur, sagte Tschepucha. Wir waren jetzt in einem Gebiet, das Tschepucha auch Ibissur nannte, an der, wie er sich ausdrückte, Wurzel Sibiriens, das ein unscharfer Name für ein eigentlich nicht allzu großes Gebiet sei. Er sagte eigentlich, auf ältere Nachrichten Bezug nehmend, Ibissibur. Beim Denken des Wortes Ibissibur komme ich jedoch immer ins Stocken, meine Zunge ins Stottern, ich sage lieber etwas einfacher Ibissur, da sonst mein Kopf zu stottern beginnt, ich in eine Wiederholungsschleife gerate und den Überblick verliere.“
© diaphanes AG, Zürich 2013