Der Himmel auf ihren Schultern
Ich sehe Fischer. Die Spitzen ihrer großen Spinnangeln leuchten in der Dämmerung, als angelten sie mit diesem grünlichen Glimmen fliegende Fische. Dann gehen die Fischer mit ihrem Fang in ein kleines Restaurant am Ufer und trinken Bier oder Wein, während die Fische in der Küche ausgenommen und gesäubert werden.
Besonders gut passt der Weißwein aus dieser Gegend in Flaschen aus hellblauem Glas dazu, er ist rein und leicht und etwas bitter. Dieser Wein macht einen nicht trunken, hitzig oder müde, sondern scheint die Gefühle zu umspülen. Ich trinke einen Schluck Wein, und die Frau, die ich hier kennen- und lieben gelernt habe, die sanften Fesseln der Laken, der zweifach vom Meerwasser gesalzene Schweiß auf ihrer Haut – all das entfernt sich, und mein Begehren schlägt auf einmal in eine fast geschlechtslose Zärtlichkeit um, in die Empfindung, dass der Körper dieser Frau ein Gefäß ihres Lebens darstellt, eines Lebens, das mir unzugänglich ist. Ich sehe nicht mehr sie an, sondern das Pulsieren des Lebens in ihr, das vielleicht auch sie selbst nicht kennt.
Es gibt eine Art von Erfahrung, die man nicht teilen kann
Ich beobachte, wie sich das Blut ausdehnt und wieder abebbt, sehe das leicht gerötete Gesicht und die sich wellenden Haare. Die Alltäglichkeit ihres Körpers ist für mich wertvoll und unverzichtbar. Ich möchte ihre Hand nehmen, um den Puls zu fühlen: das Schlagen ihres Herzens, das im Körper ihrer Mutter heranwuchs und aus dem Nichts entstanden ist, aus nur wenigen Zellen. Ich weiß, dass mir noch nie jemand so nah war wie sie. Aber auch sie ist mir nicht nah.
Man serviert den Fisch, ihr eine Dorade, mir einen Schwertfisch, denn dessen Fleisch ist dem eines Fisches am unähnlichsten. Er besteht aus groben Fasern und sieht aus wie ausgeblichenes Rindfleisch, nur deswegen kann ich ihn essen. Ich könnte ihr erzählen, warum ich meinen Blick von ihrem Teller abwende, Wein trinke und aufs Meer schaue, und sie – die Sensible und Verständnisvolle – würde mitfühlen und alles begreifen, aber es wäre trotzdem nur eine Erzählung. Es gibt eine Art von Erfahrung, die man nicht teilen kann.
Ein Schädel im Wasser
Deswegen beobachte ich die Fischer am Ufer, sehe, wie die Spinnangeln zittern und sich biegen, wenn sie einen Fisch an Land ziehen, und in diesen dünnen Angelruten erkenne ich die gebogenen Zweige eines wilden Johannisbeerstrauchs am Ufer eines Flusses im Norden, an denen blasse, im Licht rosig schimmernde, wässrige Beeren lasten.
In jeder mit weißlichen Äderchen durchzogenen Beere reifen schwache Kerne, und die Johannisbeerblätter welken bereits, auch wenn sie noch grün sind. Das Flusswasser badet die Blätter und Trauben in der Stromschnelle, ein Stück weiter wird das durchsichtige Wasser dunkel und farbenreich. Dort ist ein Wasserstrudel, das Wasser dreht sich gemächlich und zähflüssig im Kreis, und auf seiner Oberfläche halten sich zarte Ringe, ähnlich Spuren von Tropfen, die auf die erhärtete Schmelze von Glas gefallen sind – Äschen schnappen dort nach Insekten. Der Sommer senkt sich, das frühe Dunkel erstarkt, mit jedem Tagesanbruch wird es kälter, und der Wind wirft leicht beflügelte Libellen aufs Wasser, als fege er Fischschuppen und Insektenflügel als Kehricht aus.
Die Äsche ist ein Todesfisch, ein Flussjäger – sie schluckt Fliegen, Mücken, Libellen, um danach die Strömung abwärts zu schwimmen, sich in Löchern am Grund zu verkriechen und in Apathie zu erstarren, bis der Frühling kommt. Regenbogenfarbige Flossen planschen im Wasser, regenbogenfarbige Fischleiber scheinen darin auf. Rast. An einer Stange dampft ein Kessel, Fischsuppe wird zu19 bereitet. Das Fleisch der Äsche ist zart, es darf nur kurz gekocht werden, und es ist eine Delikatesse – frischer Fisch, mit Salz und Pfeffer abgerieben, unter Druck gegart, saftig.
Im Fleisch der Äsche war Menschenfleisch
Aber dann gehen wir weiter den Fluss entlang, der Pfad springt von einem Ufer zum anderen, und beim Übersetzen tritt jemand auf einen Menschenschädel, der sich zwischen Steinen verkantet hat und mit glitschigem, grünem Tang überzogen ist. Ein Schädel. Ein Schädel im Wasser.
Und stromaufwärts – eine wasserumspülte Steilwand, ein schwarzer Torfbrocken. Im Torf ein weiterer Schädel, Knochen, halbverwestes, erschlafftes Fleisch wie überwinterte Moosbeeren unter einer Schneedecke – ein Lagerfriedhof, der unterspült wurde, nachdem der Fluss sein Bett gewechselt und sich in einen neuen Nebenarm ergossen hat. Ich erbreche den Fisch, den ich gegessen habe.
Im Fleisch der Äsche war Menschenfleisch, und nun bin ich ein Menschenfresser, und ihr alle seid Menschenfresser, weil ihr den Fisch gegessen und dieses Wasser getrunken habt, in dem die Toten verwest sind. Ich würge daran, doch das Unreine bleibt, es ist in meinem Körper, in meinem Blut für immer. Und ich verfluche die Spinnangel, die Angelschnur und den Köder. In meiner Lippe steckt ein Wurmhaken, ich habe den Blinker heruntergeschluckt, er zerreißt mir die Gedärme.
Das Gedächtnis als Mordwerkzeug
In den Fluss geworfene Fischskelette und menschliche Knochen – ich war immer nur ein Bindeglied in der Verzehrkette, mein selektives Gedächtnis wurde zum Mordwerkzeug. Zu viel von mir selbst lag darin, und das vollblütige, starke Leben hat gleichsam insistiert, es gäbe keine Trauer, keinen Verlust für das Sein – das Leben bezwinge und tilge alles. Mir wird klar, dass ich die Hostie des Todes nicht zufällig angenommen habe.
Durch sie sehe ich wie mit wiedererlangter Sehkraft meinen Körper, mein Erinnerungsvermögen, mein Leben wie eine Vorherbestimmung: das Erbe des Bluts, das Erbe der Erinnerungen, das Erbe fremden Lebens – alles lechzt nach Worten, sucht nach Sprache, will sich erfüllen bis zum Schluss, will sich vollenden, erkannt und beweint werden. Ich sehe und erinnere mich. Und dieser Text ist wie ein Denkmal, wie eine Klagemauer, wenn die Toten und Trauernden sich nirgendwo treffen können als an der Mauer der Worte, die Tote und Lebende vereint.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Aus dem Russischen übersetzt von Franziska Zwerg
Zum Interview mit Sergej Lebedew