Russland

„Ich bin ein Zeuge“

ostpol: Herr Lebedew, Ihr Roman erzählt von der Beziehung eines Jungen zu einem alten blinden Mann, den er „zweiter Großvater“ nennt. Später erfährt man: Früher war dieser Großvater Kommandant eines stalinistischen Straflagers. Warum haben Sie als junger Autor von 31 Jahren den Gulag als Stoff gewählt?

Sergej Lebedew: Der Stoff hat mich gewählt. Bereits als Jugendlicher habe ich in den 1990er Jahren an geologischen Expeditionen nach Zentralasien und in den Norden Russlands teilgenommen. Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal mit dem Hubschrauber an einen Ort kam, wo es um mich herum nur wilde Natur gab. Und plötzlich tauchte da eine alte Straße auf, die schon mit Bäumen überwachsen war, dazu verfallende Baracken und verlassene Stollen, in denen früher Häftlinge arbeiten mussten. Überall stieß ich auf die Ruinen des Gulags.


Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren. Er ist Autor von Gedichten, Essays und journalistischen Texten. „Der Himmel auf ihren Schultern“ ist sein erster Roman und stand auf der Longlist des russischen „Nazbest“-Preises (Nationaler Bestseller) 2011.


Was hat diese Entdeckung in Ihnen ausgelöst?

Lebedew: Damals hatte ich ein Gefühl, das für einen Teenager ziemlich ungewöhnlich ist: Ich bin ein Zeuge. Nicht des Gulags, aber der Tatsache, dass vor meinen Augen das materielle Denkmal des Gulags verschwindet, der physische Beweis. Wenn du das gesehen hast, kannst du nicht mehr sagen, dass du damit nichts zu tun hast. Du fühlst eine Verpflichtung. In zwei Jahrzehnten wird die Natur die Ruinen endgültig verschwinden lassen. Dann bleiben nur noch die Papiere übrig, die Archive.


Sergej Lebedew in Leipzig

Geld
13. März 2014 | 12:00 – 13:00 Uhr
Mitwirkende: Sergej Lebedew
Moderation: Christine Hamel
Ort: Café Europa Halle 4, Stand E401

Der Himmel auf ihren Schultern
13. März 2014 | 19:00
Mitwirkende: Sergej Lebedew
Ort: Berlitz Sprachschule Leipzig, Petersstraße 32/34, 04109, Leipzig (Zentrum)

Der Himmel auf ihren Schultern
14. März 2014 | 13:00 – 14:00 Uhr
Mitwirkende: Sergej Lebedew
Moderation: Christine Hamel
Ort: Café Europa Halle 4, Stand E401


Gab es für den ehemaligen Lagerkommandanten in Ihrem Buch ein reales Vorbild?

Lebedew: Der zweite Mann meiner Großmutter war Tschekist und Lagerkommandant, was ich aber erst viele Jahre nach ihrem Tod erfuhr, als ich ihre Unterlagen durchging. In einer Bonbonschachtel hatte sie Orden aufbewahrt. In meiner Kindheit war ich überzeugt, dass diese meinem Großvater gehört hatten, der kurz nach dem Krieg gestorben war. Aber dann stellte sich heraus: Es waren die Orden ihres zweiten Mannes. Die besonders wichtigen Auszeichnungen erhielt er im Jahr 1937 – zur Zeit des Großen Terrors. Ich glaube, niemand in der Familie wusste über seine Vergangenheit Bescheid. Das ist aber nur ein Beispiel für ein generelles Problem.

Inwiefern?

Lebedew: In den 1970er und 1980er Jahren verschwanden alle ehemaligen Untersuchungsrichter und Lagerkommandanten aus dem öffentlichen Bewusstsein. Sie maskierten sich, lösten sich geradezu auf unter den Menschen. Sie verwandelten sich in Gespenster, wurden zu Schweigern. Mein Roman ist der Versuch, über eine solche Figur zu schreiben.

Ihr Buch stand 2011 auf der Longlist für den Preis „Nationaler Bestseller“. Wie haben die russischen Leser auf Ihren Roman reagiert?

Lebedew: Viele Menschen haben mir gesagt, dass sie in der Figur des ehemaligen Lagerkommandanten, der seine Vergangenheit verheimlicht, ihre eigenen älteren Verwandten erkannten. Sie erzählten mir: Über das Buch haben wir verstanden, mit wem wir in unserer Kindheit lebten und woher diese Atmosphäre des Schweigens rührte.

Welchen Stellenwert hat Stalin heute in der russischen Gesellschaft?

Lebedew: Stalin ist heute kein historischer Held oder Anti-Held, sondern ein Geist, der Schatten eines Helden. In Bezug auf das Stalinbild gibt es mehrere russische Gesellschaften. Für seine Anhänger ist er ein Gott der Geschichte, der blutige Opfer gefordert hat. Ein großer Teil der Bevölkerung beschäftigt sich gar nicht mit ihm und für eine kleine Gruppe ist das Wiederaufleben des Stalinkults eine scheußliche Sache, aber auch diese Gruppe weiß nicht, wie sie mit diesem Problem umgehen soll.

Was bewirken hier die jüngsten Proteste auf Russlands Straßen?

Lebedew: Leider habe ich den Eindruck, dass die heutige Protestbewegung dem Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit einen schlechten Dienst erweist. Da herrscht die viel zu einfache Vorstellung von Putin als Stalins Nachfolger. Zweifellos ist Putin ein Erbe, aber nicht im direkten Sinn. Die politischen Repressionen von heute zeugen eher von der Entstehung eines neuen repressiven Modells als von der Rekonstruktion des alten. Auch wenn die Worte „Putin“ und „Kreatives Schaffen“ wenig miteinander gemein haben: Der Präsident ist ein kreativer Erbe.

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