Das Milliarden-Grab
Rund um die Reaktorruine von Tschernobyl ist ein Baufeld mit rot-weißem Band abgesperrt. Bagger sind aufgefahren. Seit der Betonsarg um Block IV im Jahr 2008 für 50 Millionen Dollar notdürftig stabilisiert wurde, sticht seine Baufälligkeit ins Auge.
Ein gelb lackiertes Metallgerüst stützt seither die Westwand des Reaktorgebäudes, die die Hauptlast des tonnenschweren Schutzmantels trägt. Der ruht zudem auf erhaltenen Entlüftungsschächten der Ruine, die größeren Erschütterungen nicht standhalten würden. „Auf der Ostseite hätte man eigentlich auch etwas tun müssen“, erklärt Tschernobyl-Kenner Lutz Küchler von der Deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), die die Ukraine im Umgang mit dem strahlenden Erbe berät. „Man verzichtete aber im Vertrauen darauf, dass die geplante neue Schutzhülle rechtzeitig fertig wird.“ Schon deswegen duldet das vom Westen finanzierte Riesenprojekt eigentlich keinen Aufschub.
Arbeit für 100 Jahre
Und doch ist der neue sichere Einschluss, wie die internationalen Geldgeber das gleichsam gewaltige wie ambitionierte Vorhaben getauft haben – Spannweite: 257 Meter, Höhe: 108 Meter –, derzeit wieder in Turbulenzen. Auch gut zehn Jahre, nachdem die drei nicht explodierten Blöcke I-III auf westlichen Druck hin abgeschaltet wurden, hält der Atomkomplex von Tschernobyl Dutzende Berater, Finanziers und Projektmanager in Atem – und versorgt noch immer rund 3.400 Kraftwerksmitarbeiter mit Lohn und Brot. Der dickleibige, detaillierte Regierungsplan zum Rückbau der Anlage umfasst Arbeit für 100 Jahre.
Alexander Schimchuschnikow etwa, ein massiger, freundlicher Mann, arbeitet in der Dokumentations- und Sicherheitsabteilung der Anlage. Schimchuschnikow fährt jeden Werktag mit dem Oberleitungszug, genannt „Elektritschka“, an seinen weltbekannten Arbeitsplatz. Die Bahn fängt bei der Fahrt durch die gesperrte 30-Kilometer-Zoneso so viel radioaktiven Staub auf, dass sie regelmäßig gründlich gereinigt und dekontaminiert werden muss. Schimchuschnikow und seine Kollegen, die taschenrechnergroße Strahlen-Messgeräte bei sich tragen wie andere ihren Führerschein, ziehen sich vor Schichtbeginn komplett um. Der Büroarbeiter steigt in seine nur für die Strahlenzone reservierte Kleidung: dunkelblaue Hose und Jackett, Hemd, Krawatte.
Die Strahlung dringt durch den Sarkophag
Es strahlt auch aus dem verseuchten Boden heraus und durch den spröden Sarkophag hindurch. Die Belastung steigt und sinkt manchmal schon nach mehreren Schritten erheblich; spezielle Karten zeigen, ähnlich den Isotop-Linien beim Wetterbericht, Abschnitte, in denen man sich problemlos, andere, in denen man sich besser nicht zu lange aufhält. Mal erreicht die Strahlung das hundert-, mal das tausendfache der natürlich Radioaktivität. „Angst vor den Strahlen ist ein schlechter Ratgeber“, erläutert Schimchuschnikow. „Man muss wissen, was man tut.“
In der Ukraine sind auch vor der aktuellen Geberkonferenz schon hohe Summen in die Absicherung des Reaktors geflossen. Westliche Bau- und Nuklearkonzerne haben Großaufträge ergattert. Und doch lösen all die Vorhaben nur einen Bruchteil der Probleme, so Kritiker wie Dmitri Chrama vom Nationalen Ökologischen Zentrum in Kiew. „Jeden Tag spült der Dnjepr radioaktive Partikel in die Hauptstadt“, sagt der junge Umweltschützer. „Sie wollen nur den Anschein erwecken, als hätten sie die Dinge im Griff.“
Kosten in Milliardenhöhe
Schon jetzt haben allein die Projekte, die die Londoner Osteuropabank verwaltet, darunter die neue Schutzhülle, 1,2 Milliarden Euro gekostet. Die Bank gibt keine Detailinformationen etwa über Beraterhonorare heraus. Jedenfalls kommen die zentralen Bauvorhaben selbst nur im Schneckentempo voran – wie etwa drei Projekte zur Beseitigung hochradioaktiver Brennelemente sowie verschiedener Arten von Nuklearmüll. Immerhin eine Anlage zur Lagerung sogenannter fester Nuklearabfälle knapp unter der Erde hat der fränkische Atommüll-Spezialist Nukem vor zwei Jahren fertiggestellt. Inzwischen läuft ein Testbetrieb. „Mal werfen die internationalen Partner ihre eigenen Planungen über den Haufen, mal bekommen unsere Behörden die Genehmigungsverfahren nicht hin“, klagt Schimchuschnikow. Aufgeschreckt durch die Ereignisse in Japan, sollen nun alle Projekte zusätzlich auf Erdbebensicherheit hin überprüft werden.
Für den neuen Sarkophag ist rund anderthalb Jahrzehnte nach Projektstart inzwischen immerhin der Boden bereitet. Die vorgesehene Baufläche, ein paar hundert Meter von Block vier entfernt, wurde planiert und weitgehend dekontaminiert. Um die Strahlenbelastung der Arbeiter zu verringern, soll das riesige Runddach auf Abstand montiert und erst nach Vollendung über Schienen auf die Reaktorruine geschoben werden. Tonnenweise belastetes Erdreich musste ausgetauscht werden. Dabei stießen Arbeiter auf seinerzeit offenbar eilig verscharrte, kontaminierte Baufahrzeuge.
Keiner weiß, wohin mit den Abfällen
Derweil weiß man von Ballonmessungen, dass die Strahlung weiter oben zunimmt. Offenbar schirmt der Kraftwerkskorpus unten besser ab. Was aber problematisch ist für die Montage eines Bauwerks von über 100 Metern Höhe. Daher will man möglichst große Einzelteile am Boden montieren und dann aufsetzen; ähnlich ging man auch schon beim Stabilisierungs-Gerüst für die Westwand vor.
Wenn der neue Schutzmantel erst einmal aufliegt, soll eine unter dem Dach verankerte Krananlage den Reaktor ferngesteuert Zug um Zug zu zerlegen – und freizulegen, was noch an strahlender Masse in ihm ruht. Ganz genau weiß das keiner – ebenso wenig, wo die strahlenden Überreste einmal gelagert werden sollen. „Sie haben sicher auch deswegen eine Lebensdauer von 100 Jahren für die Umhüllung angesetzt, weil sie in Wahrheit gar nicht wissen, wohin mit den Abfällen“, vermutet Berater Küchler von der GRS.
Von der strahlenden Dauerbaustelle profitiert vor allem die Retortenstadt Slawutisch. Flache, weiß getünchte Gebäude mit Bungalow-Charme geben dem Ort einen Hauch von Kurort. Gaststätten bitten zu Tisch, gepflasterte Fußgängerzonen werden von Messinglaternen bestrahlt, Birken und Kiefern vergrünen das Stadtbild. Hinter fast jedem Wohnblock finden sich bunt gestrichene Spielgeräte für Kinder; und anders als in der 200 Kilometer entfernten Hauptstadt Kiew sind die eisernen Reckstangen nicht entwendet und an Metallhändler verschachert.
Das ausgediente AKW ist der größte Steuerzahler
In Rekordzeit und unter starker finanzieller Zuwendung aus Moskau bauten Russen, Ukrainer, Balten und Georgier noch 1986 „ihre“ Wohnviertel auf. „Man nennt uns das letzte Museum der Sowjetunion“, sagt Ljubima Mikolajewna von der Stadtverwaltung stolz. Das ausgediente Atomkraftwerk ist mit Abstand größter Steuerzahler. Auch Mikolajewnas Sohn arbeitet in Tschernobyl. Der Gatte ging vorzeitig in Rente: Ein Jahr Arbeit im GAU-Reaktor wird von der Rentenkasse wie drei Jahre behandelt.
Und so finden sich kaum Atomkraft-Kritiker in Slawutitsch. Es gebe für ein armes Land leider keine Alternative, meint Dokumentar Schimchuschnikow mit Blick darauf, dass der ukrainische Kraftwerkspark in den nächsten Jahrzehnten kräftig ausgebaut werden soll. Derzeit gibt es 15 Atomreaktoren. Die Anlagen stehen teils direkt an riesigen Djnepr-Stauseen, deren Dämme keinen sehr vertrauenserweckenden Eindruck machen. „Lieber in 50 Jahren an Strahlen sterben als im Winter Hunger leiden“, sagt er. Er arbeite im Übrigen gern in Tschernobyl. „Tschernobyl ist mein Leben.“