Kasachstan

Die Erben des Kalten Krieges

Mit hüpfendem Pferdeschwanz läuft die fünfjährige Amina Mutter und Schwester entgegen, als diese sie aus dem Kindergarten abholen. Amina winkt den weißbekittelten Erzieherinnen zu, dann nehmen die drei den Bus vom Zentrum in die Dalnaja-Straße, in einen der Außenbezirke von Semej, im Osten Kasachstans.

Im Bus beginnt der tägliche Spießrutenlauf für Aizhan Taitenowa, die Mutter von Amina und deren Schwester Assylzhan. Viele Leute starren die Kinder an, flüstern. Denn die beiden Mädchen sind anders.


„Es sind unsere Kinder, und wir leben mit ihnen“

Mit ihren irgendwie zu klein geratenen Köpfen ziehen sie die Blicke auf sich, Amina redet undeutlich nuschelnd, die achtjährige Assylzhan schaut starr, mit schräg gelegtem Kopf, sprechen kann sie fast gar nicht. Amina und Assylzhan leiden unter Mikrozephalie: Ihre Köpfe sind überdurchschnittlich klein, das Gehirn unterentwickelt. Beide Mädchen sind schwer geistig behindert.

„Diese Blicke sind wir gewöhnt“, sagt Aizhan. „Aber soll ich meine Kinder verstecken?“ Sie klingt nicht verbittert dabei, nicht einmal trotzig oder kämpferisch. Aizhan Taitenowa ist eine pragmatische Frau. „Es sind unsere Kinder, und wir leben mit ihnen.“

Amina und Assylzhan sind, wie Tausende andere Kinder und Erwachsene, die späten Opfer eines monströsen Experiments in Kasachstan. Zwischen 1949 und 1989 testete die Sowjetunion auf dem nuklearen Testgelände südlich von Semipalatinsk, dem so genannten Polygon, Nuklearwaffen – zunächst über der Erde, ab 1965 unterirdisch. 459 Atombomben waren es insgesamt. Etwa eine pro Monat. Vierzig Jahre lang. Die Menschen der Region ahnten damals nicht einmal, mit welcher täglichen Gefahr sie lebten. Die Tests: ein Staatsgeheimnis.

Assylzhan Taitenowa ist behindert. Sie kam in Semipalatinsk zur Welt, wo die Sowjetunion Jahrzehnte lang Atomwaffen testete / Edda Schlager, n-ost /zur Geschichte
Assylzhan Taitenowa ist behindert.
Sie kam in Semipalatinsk zur Welt,
wo die Sowjetunion
jahrzehntelang
Atomwaffen testete. / Edda Schlager, n-ost

Der Erinnerung entkommt man nicht

2007 wurde Semipalatinsk auf Geheiß des Präsidenten umbenannt in Semej. Die Stadt sollte nicht ständig mit der Vergangenheit assoziiert werden. Doch die lässt sich nicht verdrängen.

Auch Galina Kusnetzowa, 57 Jahre alt, hat die „Erdbeben“ bis heute nicht vergessen: „Selbst in Semipalatinsk haben wir das Wackeln der Erde gespürt.“ Galina versucht, nicht so häufig an diese Zeit zu denken. Doch ihre Enkeltochter erinnert sie täglich daran. Elisavjeta Grazda, genannt Lisa, leidet an infantiler Zerebralparese, einer körperlichen und geistigen Behinderung. Sie kann ohne Hilfe nicht laufen, nur krabbeln. Weil die rechte Gehirnhälfte unterentwickelt ist, ist ihre linke Seite gelähmt. Die meiste Zeit des Tages verbringt sie rittlings auf einem speziellen Holzhocker, den ihr Vater Andrej gebaut hat. So sitzt sie stabil und kann sich abstützen, wenn sie wieder zusammensackt.


Die bürokratischen Hürden sind hoch

Im Sommer trägt ihr Vater sie manchmal aus dem vierten Stock hinunter und schiebt sie mit dem immer wieder reparierten Rollstuhl durch die Straßen. „Lisa ist mittlerweile einfach zu schwer“, so Andrej, „deshalb bleiben wir meist in der Wohnung.“

In der kleinen Zweizimmerwohnung lebt Lisa mit ihren Eltern und den Großeltern. Alle vier arbeiten, Tatjana und Andrej im Zementwerk, dem größten Arbeitgeber der Stadt. „Gott sei Dank im Schichtdienst“, sagt Lisas Mutter, „so können wir uns abwechselnd um sie kümmern.“ Eine Sozialarbeiterin kommt einmal pro Woche und übt mit Lisa Zahlen und Buchstaben. Doch eine reguläre Schule wird Lisa nie besuchen können, sie wird ein Leben lang pflegebedürftig bleiben.

Ihre Familie, in der vier Erwachsene verdienen, verfügt über ein Einkommen von etwa 150.000 Tenge im Monat, umgerechnet etwa 800 Euro. Das liegt etwa ein Drittel über dem offiziellen Durchschnittsverdienst in Kasachstan. Lisa erhält eine Invalidenrente von umgerechnet 110 Euro pro Monat. Hinzu kommt eine zusätzliche Entschädigung von 15.000 Tenge monatlich, rund 80 Euro, weil ihre Krankheit als Folge der Nukleartests anerkannt ist.


In der Warteliste auf Platz 1.073

Die Familie musste dazu einer staatlichen Kommission eine Reihe von Nachweisen vorlegen. Die Kommission gleicht Familiengeschichte und Krankheitsbild mit den staatlichen Vorgaben des „Gesetzes zum sozialen Schutz von durch das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk betroffenen Bürgern“ ab. Haben die Eltern nur im Nachbarbezirk einer der im Gesetz ausgewiesenen Gefahrenzonen gelebt oder hat das Kind eine nicht im Gesetz benannte Behinderung, die aber trotzdem durch Strahlung verursacht worden sein könnte, wird der gesundheitliche Schaden nicht als „strahlungsinduziert“ anerkannt. Anspruch auf die nötige finanzielle Hilfe besteht dann laut Gesetz nicht.

Doch auch die ihnen zustehende Hilfe wird nicht immer geleistet. Tatjana und Andrej Grazda warten auf eine Sozialwohnung, auf die sie gesetzlichen Anspruch haben. „Wir stehen auf der Warteliste“, sagt Tatjana. In den vergangenen sechs Jahren sind sie um knapp 200 Plätze vorgerückt, derzeitiger Platz: 1.073.


Viele Familien zerbrechen an der Belastung

„Viele Familien zerbrechen an den finanziellen und sozialen Belastungen, wenn ein behindertes Kind geboren wird“, so Yerbol Ibraimow, Leiter des städtischen Kinderheims „Haus des Kindes“ in Semej. Manchmal landen zwei oder drei Neugeborene und Kleinkinder pro Woche in seiner Obhut, oft sind es Kinder mit schwersten Missbildungen. Die dreijährige Dina kam ins Heim, als sie nur wenige Tage alt war. Seitdem ist ihr Körper nur wenig gewachsen, ihr Kopf nimmt dagegen jeden Monat um einen weiteren Zentimeter zu. Ihr Kopfumfang misst schon mehr als 60 Zentimeter. Die Kleine mit dem zarten Gesicht hat einen Hydrozephalus, einen Wasserkopf.

Kinderkrankenschwester Larissa Dimitrjewna pflegt Dina, streichelt sie zwischendurch immer wieder und redet mit ihr. Doch Dinas Gehirn ist kaum entwickelt. Sie kann nur liegen, wird gefüttert und jede halbe Stunde umgedreht, damit sie sich nicht wundliegt. „Sie sagt uns schon, wann wir sie drehen müssen“, sagt Larissa, „dann weint sie, weil ihr der Kopf weh tut.“


Verlässliche Zahlen gibt es nicht

Wie viele Kinder heute in der Region um Semej aufgrund der Atombombentests mit Behinderungen geboren werden, kann Ibraimow nicht sagen. Doch auch offizielle Stellen tun sich mit Schätzungen schwer. Eine wissenschaftliche Studie wies nach, dass schwere Mehrfachmissbildungen bei Kindern in der Region um Semipalatinsk fünf Mal häufiger auftreten als in anderen Regionen Kasachstans. Über einen Zeitraum von knapp 30 Jahren nahmen die Geburten von Kindern mit Down-Syndrom um zwölf Prozent zu. Gerade das Down-Syndrom steht aber nicht auf „der Liste“ der durch Strahlung verursachten Krankheiten.

Auch Heimleiter Ibraimow möchte bei seinen Kindern nicht unbedingt den Zusammenhang mit radioaktiver Strahlung sehen. „Es ist schwer, die Ursache eindeutig zu bestimmen.“ Viele Frauen würden darüber hinaus während der Schwangerschaft nicht zu den Untersuchungen gehen. „Sonst könnten diese Geburten verhindert werden“, meint er.


Weite Wege zu Ärzten und Kliniken

Was Ibraimow verschweigt: Das offiziell kostenlose und gut entwickelte Gesundheitssystem in Kasachstan ist längst nicht allen zugänglich, Behandlungen müssen oft direkt beim Arzt bezahlt werden. Auf dem Land ist die Ausstattung der Praxen schlecht, die Mediziner sind unerfahren.

Auch Aizhan und ihr Mann lebten in einem Dorf 350 Kilometer südlich von Semej – auf der anderen Seite des Polygons –, hatten Kühe und Schafe. Als Aizhan zum zweiten Mal schwanger war, ging sie zur Untersuchung in den nächstgrößeren Ort. „Sie haben mir vor der Geburt immer wieder gesagt, es sei alles in Ordnung.“ Dass Amina dann mit der gleichen Behinderung geboren wurde wie Assylzhan, war ein Schock.


„Wir haben ja keine Wahl“

Die Töchter ins Heim zu geben – wie ihr bei beiden Geburten angeboten wurde – kam für sie dennoch nicht in Frage. Heute besuchen beide Mädchen eine Tagesstätte für behinderte Kinder. 28 Plätze hat die einzige Einrichtung dieser Art in Semej. Wegen der besseren Versorgung ist die Familie vor einem Jahr nach Semej gezogen. Jetzt ist das Zuhause der Familie ein ausrangierter Bauwagen mit blauen Fenstern und knapp 20 Quadratmetern Wohnfläche. Auf dem handtuchschmalen Grundstück, auf dem der Waggon steht, will Aizhans Mann ein Häuschen bauen. Er ist arbeitslos wie auch Aizhan. Dennoch wirkt Aizhan zufrieden: „Wir haben ja keine Wahl“, lacht sie.

Auch Tatjana und Andrej Grazda schauen nach vorn. Etwas verlegen erzählen sie, dass sie ein zweites Kind wollten. Ja, gibt Tatjana zu, Angst, dass auch das zweite Kind krank sein könnte, sei dabei. „Aber“, sagt sie, „wer soll sich sonst später um Lisa kümmern?“


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