Russland

Pussy Riot: Tag der Entscheidung

Wenn am Freitag um 15 Uhr Moskauer Zeit Marina Syrowa, Richterin des Chamowniki-Gerichts, das Urteil im Fall „Pussy Riot“ spricht, wird es auf der Straße vor dem Gerichtssaal wieder Polizeiabsperrungen geben, Journalisten, die auf Einlass warten, Unterstützer von Pussy Riot, die Parolen skandieren, und orthodoxe Gegner, die Bibelverse zitieren. Das Spektakel, das mit der Verhaftung von Nadjeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Aljochina im März begann und nun mit dem Prozess sein Ende findet, hat wie kein anderes Gerichtsverfahren der letzten Jahre die russische Gesellschaft gespalten.

Alles hatte mit dem Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale am 21. Februar begonnen: Fünf junge Frauen in bunten Häkelmasken erstürmten da den Altar des prächtigen Gotteshauses im Zentrum Moskaus und sangen ihr „Punkgebet“: „Muttergottes, vertreibe Putin.“ Der später zu einem millionenfach geklickten Videoclip verarbeitete Auftritt war nach Darstellung der Frauen ein Protest gegen die immer enger werdende Verzahnung von orthodoxer Kirche und russischem Staat. Die Staatsanwaltschaft dagegen erkannte einen Fall von Rowdytum und warf den jungen Frauen als Motiv religiösen Hass vor.

Fünf Monate verbringen die jungen Frauen, zwei von ihnen Mütter von kleinen Kindern, in Untersuchungshaft. Am 30. Juli beginnt endlich der Prozess. Die Angeklagten bitten um Entschuldigung, sollten sie jemandes religiöse Gefühle verletzt haben, beteuern aber, dass die Aktion in erster Linie politisch gewesen sei. Der Staatsanwalt dagegen versucht zu beweisen, dass es gerade Ziel der jungen Frauen gewesen sei, die religiösen Gefühle der gläubigen Menschen zu verletzen. Vor Gericht treten mehr als ein Dutzend „Geschädigte“ auf: Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Kathedrale und Kerzenverkäuferinnen beschwören mit zitternder Stimme, welchen moralischen Schaden sie durch die Gotteslästerung der jungen Frauen erlitten hätten.

Die Anwälte sprechen von einem "abgekarteten Spiel"

Das Gerichtsverfahren, nach Meinung der Anwälte und vieler Oppositioneller aus dem Kreml „bestellt“, ist ein abgekartetes Spiel: Nachfragen der Pussy-Riot-Anwälte lässt die Richterin oft nicht zu, dafür zieht sie den Prozess in Rekordtempo durch, an manchen Tagen bis spät abends. Nach nur einer Woche ist der Prozess beendet, und der Staatsanwalt fordert für die jungen Frauen jeweils drei Jahre Gefängnis und bleibt damit unter der maximal möglichen Strafforderung von sieben Jahren. Viele zeigen sich überrascht, als die Richterin am darauffolgenden Tag die Urteilsverkündung auf die nächste Woche verschiebt. Wie in früheren Gerichtsfällen – etwa dem gegen die Kunstkuratoren Andrej Jerofejew und Juri Samodurow – gibt es offenbar im Hintergrund ein Tauziehen über die Höhe der Strafe. Schon während der Verhandlung hatte sich selbst Wladimir Putin zum Prozess geäußert: Vor Journalisten in London verurteilte er zwar die Aktion der jungen Frauen, rief allerdings das Gericht auf, nicht zu hart zu urteilen.

Dass den jungen Frauen das Gefängnis wohl dennoch nicht erspart bleibt, glaubt der Oppositionelle Eduard Limonow, der selber mehrere Jahre im Straflager verbracht hat. Mit ihm ist Kurator Andrej Jerofejew einverstanden, der 2010 noch mit einer Geldstrafe davongekommen war, obwohl der Staatsanwalt auch für ihn drei Jahre Haft gefordert hatte: „Damals hieß der Präsident eben Dmitri Medwedew, und er hatte um sich zurechnungsfähigere Berater als Wladimir Putin.“

International wird der Kreml für das Verfahren gegen die jungen Frauen heftig kritisiert: Bei Konzerten in Moskau solidarisierten sich Madonna sowie die Sänger der Gruppen Red Hot Chili Peppers und Faith no More mit den Frauen. In Deutschland, den USA und einer Reihe anderer Länder bildeten sich Gruppen, die mit Protestaktionen Solidarität mit den Inhaftierten demonstrierten. Selbst der deutsche Außenminister Guido Westerwelle erklärte am Dienstag, dass er den Prozess um die Punkband „sehr aufmerksam“ verfolge und rief Russland dazu auf, die Freiheit der Kunst zu schützen.

In Russland selbst hat die staatliche Propagandamaschine die öffentliche Meinung geprägt: Direkt nach der Inhaftierung der jungen Frauen folgte eine hetzerische Kampagne im Staatsfernsehen, in der die jungen Frauen als von Dämonen besessen oder von dunklen Hintermännern gesteuert dargestellt wurden. Der politische Kontext des Punkgebetes wurde völlig ausgeklammert, im Vordergrund stand die angebliche Gotteslästerung. Die Berichterstattung über den Prozess dagegen ist allerdings relativ nüchtern und knapp.

Der Prozess verstärkt den gesellschaftlichen Riss

Die Verteidiger von „Pussy Riot“ dagegen sind in der Minderheit: 33 Prozent der Russen halten nach einer aktuellen Umfrage des Lewada-Instituts eine Strafe von zwei bis sieben Jahren für gerechtfertigt, nur 15 Prozent sind der Meinung, dass derartige Aktionen nicht strafrechtlich verfolgt werden sollten. Nach Meinung der Lewada-Soziologin Natalja Sorkaja zeigt das den tiefen Riss, der durch die russische Gesellschaft geht, und der sich durch den Prozess nur noch verstärkt hat: Auf der einen Seite stehe die liberale, weltoffene Gesellschaft der Großstädte, auf der anderen die passive Gesellschaft der kleinen Städte, deren Meinung leicht durch das Staatsfernsehen zu manipulieren sei.

In den Tagen vor der Urteilsverkündung versuchen die Unterstützer von „Pussy Riot“ nochmal alles, um für Aufmerksamkeit zu sorgen: Vor der Christ-Erlöser-Kathedrale stellen sich am Mittwochmorgen zwei Dutzend Unterstützer in bunten Strickmasken auf, in den Händen den biblischen Schriftzug „Selig sind die Barmherzigen.“ Und im Lenin-Mausoleum am Roten Platz verteilt ein Mann rund um den Sarkophag Bilder der Pussy-Riot-Aktivistinnen. „Ich wollte den Opa etwas aufmuntern, ihm ist es bestimmt langweilig“, erklärte er laut dem Internetportal „lifenews“ den Polizisten, die ihn abgeführt hatten.

Noch mehr Oppositionelle in Haft

Aber das Gerichtsverfahren gegen Pussy Riot ist nicht das einzige Verfahren gegen Oppositionelle. Dem Blogger und Anwalt Alexej Nawalny wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, im Jahr 2009 als Berater des Gouverneurs des Gebietes Kirow ein staatliches Holzunternehmen um 1,3 Millionen Rubel (32.500 Euro) geprellt zu haben. Allerdings wurde Nawalny, der in den vergangenen Jahren mit Antikorruptionskampagnen zu einem der populärsten Anführer der Opposition geworden ist, nicht in Untersuchungshaft genommen.

In U-Haft warten dagegen elf junge Russen auf ihren Prozess, die am 6. Mai an gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei während einer Demonstration im Zentrum Moskaus beteiligt gewesen sein sollen. Ihnen und fünf weiteren Angeklagten, die teilweise unter Hausarrest stehen, drohen bei einer Verurteilung langjährige Haftstrafen.


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