Hinter Gitter für ein Punkgebet
Es ist ein Ort mit Geschichte, dieser braun getäfelte Gerichtssaal im Moskauer Chamowniki-Gericht am Ufer des Flusses Moskwa. Hier wurde im letzten Jahr das Urteil verlesen, an dessen Ende sechs weitere Jahre Haft für den ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij standen. An diesem Montag sitzen hinter den Glasscheiben des braunen Sicherheitskäfigs aber keine Oligarchen, sondern drei junge Frauen: In karierten Hemden Nadja Tolokonnikowa, 22, und Jekaterina Samuzewitsch, 28, doch insbesondere die 23-jährige Maria Aljochina sieht in ihrem lila Kleid und dem Reif in ihren Haaren nicht so aus, als könne sie einer Fliege etwas zuleide tun. Oder gar „auf frevlerische Art die jahrhundertealten Grundsätze der Russischen Orthodoxen Kirche“ erniedrigen. So steht es in der Anklageschrift, die an diesem Tage verlesen wird. Vor Gericht stehen die drei jungen Frauen wegen „Rowdytum“, als Motiv wird ihnen religiöser Hass inkriminiert. Es droht eine maximale Geldstrafe von einer Million Rubel (25.000 Euro), und wenn es ganz schlecht läuft, eine Haftstrafe von sieben Jahren.
„Pussy Riot“, das war bis zum Februar diesen Jahres eine weitere Blume der radikalen russischen Aktionskunst: Mit bunten Häkelmasken und ebenso bunten Kleidern bestiegen die jungen Feministinnen Trolleybusse, Gerüste in der U-Bahn, Podeste auf dem Roten Platz und schrien ihre Unzufriedenheit in die Moskauer Luft: Gegen Putin, gegen die männerdominierte Gesellschaft, gegen das System. Aus den Aufnahmen bastelten sie mit E-Gitarren begleitete Punksongs und stellten sie auf Youtube. Doch selbst als sie ein paar Meter vom Kreml entfernt „Aufstand in Russland – Putin hat sich in die Hose gepisst“ brüllten, blieben sie ungestraft.
In diesem Juli sind die drei jungen Frauen in aller Munde. In London fragt die „Times“ Präsident Dmitrij Medwedjew nach seiner Meinung zu „Pussy Riot“, in Moskau tritt der Sänger der Band „Faith no more“ in einer Pussy-Riot-Maske auf. Im Hamburger „Knust“ veranstalten linke Bands am Sonntag ein Soli-Konzert für „Pussy Riot“, und aus Bilbao kommt ein Bild von vier Frauen mit Strickmasken und entblößten Brüsten, auf denen „Free Pussy Riot“ auf Englisch und Baskisch zu lesen ist. Amnesty International hat die Frauen derweil zu politischen Gefangenen erklärt. Wie konnte es so weit kommen?
Es ist Februar, keine zwei Wochen mehr bis zu den Wahlen, bei denen Wladimir Putin sich zum dritten Male zum Präsidenten wählen lassen wird. Das Land hat die größten Demonstrationen seit den 90er Jahren erlebt: Zehntausende Menschen, die im Zentrum der Hauptstadt für ehrliche Wahlen demonstrierten und „Russland ohne Putin“ riefen. Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt die Luft schon etwas raus aus dem Protestballon: Alle Umfragen zeigen, dass Putin siegen wird. Da taucht am Abend des 21. Februar auf Youtube das Video des „Punkgebetes in der Christ-Erlöser-Kathedrale“ auf: Vier junge Frauen stehen da im Pussy Riot-Dress auf dem Altar vor der Ikonostase. „Der Patriarch glaubt an Putin. Der Schweinehund sollte lieber an Gott glauben“, brüllen sie, und dann den Refrain: „Scheiße, Scheiße, Gottesscheiße“. Aufgeregt rennen ältere Frauen in Kopftüchern und Kirchendiener um den Altar herum und versuchen, die jungen Frauen zu stoppen. Und zwischendurch, ganze ohne Begleitung von E-Gitarren und Schlagzeug, imitieren die vier orthodoxe Gesänge: „Mutter Gottes, verjage Putin“, erklingt es, dazu fallen sie auf die Knie und bekreuzigen sich. Der Clip sammelt in kürzester Zeit über eine Million Aufrufe.
Jene Kathedrale im Zentrum Moskaus ist nicht irgendein Gotteshaus: Vom Zaren errichtet nach dem Sieg über Napoleon, ließ Stalin den Prunkbau abreißen. Unter Präsident Boris Jelzin wurde das Gebäude wieder in seiner ganzen Gold- und Marmorpracht aufgebaut: Die Kathedrale sollte zum Symbol des wiederauferstandenen, christlichen Russlands werden. Aber zugleich symbolisiert sie das, was „Pussy Riot“ anprangerten: Die Nähe des Patriarchen Kirill zu Wladimir Putin, von Kirche und Staat.
Es folgen einige Tage der Ruhe, bis die Staatsanwaltschaft schließlich die Mitglieder der Gruppe zur Fahndung ausschreibt. Drei von ihnen werden bis März in Untersuchungshaft genommen, die übrigen Mitglieder sind untergetaucht. „Der Prozess wird aus der Präsidentenverwaltung gesteuert“, sagt am Montagmorgen im Gerichtssaal der Vater der angeklagten Jekaterina Samuzewitsch. Er ist sich sicher, dass an seiner Tochter ein Exempel statuiert werden soll, ein Schauprozess, aus dem die Oppositionellen des Landes ihre Lehre ziehen sollen. Am Dienstag wird in Moskau auch eine Anklage gegen den oppositionellen Blogger und Anwalt Alexej Nawalny in einer schon mehrfach geschlossenen Strafsache erwartet, viele vermuten einen politischen Hintergrund. Aber warum hat der Staat im Fall „Pussy Riot“ erst zugeschlagen, als es gegen die Kirche ging?
Dass die Strafverfolgung aus der Präsidialverwaltung angestoßen wurde, bezweifelt in Russland kaum jemand. „Die Aktion in der Kirche kam dem Regime gerade recht, um die ganze Oppositionsbewegung in den Augen der Bevölkerung zu diskreditieren“, erklärt der Religionswissenschaftler Michail Krasulin. Im russischen Staatsfernsehen folgten Talkshows, in denen sich Gläubige, Moderatoren und orthodoxe Priester über die Gotteslästerung ereiferten und die Frauen zu Besessenen erklärten. „Die Botschaft sollte sein: Die Oppositionellen – das sind die, die mit „Pussy Riot“ sympathisieren und solche Aktionen unterstützen“, sagt Krasulin.
Pussy Riot also als Keil, an dem sich die Geister der
russischen Öffentlichkeit spalten sollen? Auch der Staatsanwalt spricht
am Montag von einer „Spaltung“, von einer derart aufgeheizten Stimmung
in der Gesellschaft, dass er fordert, die Online-Übertragung für die
Zeugenbefragung zu unterbrechen. Dem Antrag gibt die Richterin statt.
Die
russische Öffentlichkeit streitet über den Umgang mit dem rüden
Punkgebet im Gotteshaus. Es gab Unterschriftenaktionen für und wider,
bei Haftprüfungsterminen prügelten sich orthodoxe Eiferer mit
Pussy-Riot-Unterstützern, im Süden Russlands protestierten auf den
Straßen der Stadt Krasnodar gar zehntausend Demonstranten gegen „Pussy
Riot“.
Am meisten Kopfzerbrechen bereitete das Punkgebet jedoch
der liberalen Öffentlichkeit, die während der Winterdemonstrationen
gerade erst zu ungewohnter Einigkeit gefunden hatte.
Liberale wie der
Schriftsteller Boris Akunin haben sich inzwischen dazu durchgerungen,
zwar die Aktion als geschmacklos abzulehnen, aber dennoch für eine
Freilassung der jungen Frauen zu demonstrieren. Laut einer Umfrage des
unabhängigen Lewada-Zentrums ist zwar die Mehrheit der Russen für eine
Bestrafung der jungen Frauen, aber nur ein Drittel hält eine Strafe von
zwei bis sieben Jahren für adäquat – im März war noch fast die Hälfte
der Befragten für eine solche Strafe. Und das Interesse für den Fall
scheint zu sinken: Anders als bei früheren Terminen stehen am Montag vor
dem Gerichtsgebäude nur einige Dutzend Demonstranten herum, ein paar
Aktivisten in bunten Masken brüllen an und ab „Freiheit für Pussy Riot.“
Drinnen verliest die Anwältin derweil eine Stellungnahme der Angeklagten: Die jungen Frauen erkennen ihre Schuld nicht an, entschuldigen sich aber bei den Nebenklägern, sollten sie ihre Gefühle verletzt haben. Ihr Motiv sei nicht religiöser Hass gewesen, nein, sie hätten lediglich die zu große Nähe des Patriarchen zu Putin anprangern wollen, und ja, der Auftritt sei möglicherweise ein „ethischer Fehler“ gewesen. Die neun Nebenkläger sitzen mit regungsloser Miene auf der Fensterseite des Raumes, machen den Eindruck von Statisten: Wachmänner sind es, eine Kerzenverkäuferin, eine Gläubige, die eine kleine Bibel in Händen hält. Sie, so heißt es in der Anklage, hätten durch ihre Anwesenheit während des Punkgebetes einen „moralischen Schaden“ erlitten. Die Kerzenverkäuferin wird später im Zeugenstand mit bebender Stimme das Konzert der jungen Frauen als „dämonische Zuckungen“ beschreiben. Wann das Urteil gefällt wird, ist bisher nicht abzusehen.