Russland

Zeitreise mit Panoramablick

Wenn im Moskauer Kinopanorama das Licht ausgeht, dreht sich die Welt um ein halbes Jahrhundert zurück. Ein Knistern, ein Flackern, ein verruckeltes Bild. Als ununterbrochener Streifen zieht sich die Leinwand in dem kreisrunden Kino an der Wand entlang – und der Zuschauer steht mittendrin. Staunend blickt er auf das bewegte Panorama ringsum. Er fliegt mit der Kamera über schneebedeckte Gipfel, rumpelt im Lastwagen durch sibirische Wälder. Er sieht nach vorn, nach hinten, zur Seite, dreht sich um die eigene Achse.

Von 20-minütigen Kurzfilmen lassen sich die Zuschauer in ein Land entführen, das es nicht mehr gibt – und manch einer ahnt, dass dem charmanten alten Kino vielleicht das gleiche Schicksal droht. „Es ist kein Geld da, was soll man machen?“, fragt Ludmila Wanjukowa in den fast leeren Raum. Die 67-jährige Filmvorführerin hat ihr ganzes Leben im Kinopanorama gearbeitet, von seiner Eröffnung 1959 bis zu ihrer Pensionierung vor einem Jahr. Sie kennt noch die Zeit, in der es an Geld nie mangelte in dem Haus, dessen Bau der erste Mann im Staat anordnete.

Parteichef Nikita Chruschtschow hatte Ende der 50er Jahre von einem Rundkino im Disneyland erfahren und beschlossen: So etwas braucht Moskau auch, größer natürlich und mit besserer Technik. Auf dem Gelände der Freiluftausstellung WDNCh ließ er in nur drei Monaten einen Zylinder aus Ziegeln und Glas errichten. 22 Leinwände wurden darin in zwei Reihen übereinander im Kreis angeordnet – doppelt so viele wie im US-amerikanischen Vorgänger.

Um Filme für das ungewöhnliche Haus zu drehen, montierte man elf Kameraobjektive auf einen Ring und konnte so eine beliebige Szenerie nach allen Seiten hin gleichzeitig aufnehmen. In aller Eile wurde ein Drehteam losgeschickt, denn zum Parteitag im Juni 1959 musste der erste Film fertig sein. Die Genossen waren begeistert: Der Streifen zeigte ihr Land in all seiner Schönheit. Er stellte – wie fast jeder weitere für das Rundkino gedrehte Film – Urlaubsziele in der UdSSR vor: die Traumstrände der Halbinsel Krim, die kaukasischen Berge, blühende sibirische Wälder.

Elf Leinwände umschließen den Zuschauer als vollkommener Kreis (Foto: Olaf Meinhardt)

Für in- und ausländische Delegationen, für Schulklassen und Touristengruppen gehörte ein Besuch im Kinopanorama bald zum Pflichtprogramm. Manchmal fuhr ein Bus des sowjetischen Reiseunternehmens Intourist unangemeldet vor. „Und wir hatten schon alle Tickets verkauft“, erinnert sich Ludmila Wanjukowa und versucht, eine erschrockene Mine aufzusetzen.

Dabei stand sie nur zu gern hinter dem Bedienungspult unten im Saal, wenn sich statt der vorgesehenen 300 mehr als 600 Menschen Rücken an Rücken ins Kino schoben. Sie freute sich über das begeisterte „Ohhh“ der Zuschauer, wenn die Kamera mit den elf Augen unter Wasser tauchte oder im Slalom zwischen Skifahrern einen Hang hinunterzischte.

Die Filmvorführer im Kinopanorama – elf Leute pro Schicht, einer hinter jedem Projektor – arbeiteten bis zum Ende der Sowjetunion im Minutentakt: Film einlegen, Tonspur einspannen, Bild justieren. Film rausnehmen, säubern und die 600 Meter auf jeder Rolle zurückspulen, in den ersten Jahren per Handkurbel. Zwanzig Minuten Film, zwanzig Minuten Pause. Macht vierzehn Vorstellungen pro Tag an sieben Tagen pro Woche.

Heute öffnet Natalia Waschtschekina, die neue Direktorin, das Kino noch an vier Tagen in der Woche. Sieben der alten Filme sind erhalten und werden im Wechsel gezeigt. Waschtschekina verkauft Karten für fünf Vorstellungen pro Tag – theoretisch. Praktisch bleibt die Leinwand oft schwarz, weil keiner kommt. Dann fegt die Direktorin die Blätter vor dem Eingang zusammen, hängt ein neues Plakat auf oder klebt einen gerissenen Film.

Zusammen mit drei Kollegen hält sie den Betrieb aufrecht, für ein eher symbolisches Gehalt. Das Kinopanorama gehört zur staatlich geförderten Gruppe „Moskauer Kino“. Staatlich gefördert? „Nun ja, ein klein wenig Geld bekommen wir, um es vorsichtig auszudrücken“, sagt Waschtschekina. Vor ein paar Jahren wurde immerhin eine neue Tür eingesetzt, kurz darauf das Dach erneuert. Ansonsten improvisiert die Direktorin: Wenn ein Kino in der Stadt einen alten Projektor ausrangiert, holt Waschtschekina ihn für das Rundkino ab.

Ab und zu lädt sie die pensionierten Filmvorführer wieder ins Kinopanorama ein. In der Mittagspause sitzen sie dann bei Tee, Käsebrot und Melone zwischen den Filmprojektoren – und weil sie statt zwanzig Minuten eineinhalb Stunden Zeit haben, denken sie sich aus, was man alles machen könnte, wenn genug Geld da wäre.

Ludmila Wanjukowa, immer noch ganz Technikerin, würde zuerst die vergilbten Leinwände austauschen. Dann müsste ein Regisseur her, der sich zutraut, einen neuen 360-Grad-Film zu drehen. Schließlich gibt es die Kamera mit den elf Augen noch, man müsste sie nur ein wenig auf Vordermann bringen. Natalia Waschtschekina denkt daran, den ungewöhnlichen Saal für Präsentationen an Unternehmer zu vermieten. Künstler könnten hier Lasershows und Videoprojektionen zeigen, wie während des Festivals für moderne Kunst vor einem Jahr. Dann würde man mit dem Kinopanorama endlich nicht mehr nur in die Vergangenheit reisen, sondern in die Zukunft.


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