Kampf den Müllbergen
Ein schmaler schwarzer Bach schlängelt sich am Berghang entlang. Er riecht bitter und süßlich zugleich. Denn der Bach ist in Wirklichkeit ein Abflusskanal, und der 40 Meter hohe Berg, um den er fließt, sind abertausende Kubikmeter Moskauer Müll. Eine gute Autostunde vor den Stadtgrenzen in Richtung Osten hat sich die Mülldeponie „Timochowo“ inzwischen auf 108 Hektar ausgebreitet. Das sind etwa 100 Fußballfelder. Ihr Limit hat sie 2004 erreicht, ihre Lizenz lief bis 2007 – aber bis heute rollen die LKWs mit Müll aus Moskau an.
„Wir haben schon unzählige Briefe an den Gouverneur geschrieben“, sagt ein Datschenbesitzer in der Nähe, „aber es bringt nichts – denn jeder LKW bedeutet Geld.“ Knapp 13 Euro zahlt die Stadtverwaltung pro Tonne Müll an die Spediteure, 20.000 Tonnen Haushaltsmüll produzieren die Bewohner der Zehnmillionenstadt täglich. Dass die Spediteure ihre Fracht auf schon geschlossenen oder illegalen Deponien abladen, kümmert die Verantwortlichen offenbar wenig.
Einer von 86 Müllbergen rund um Moskau: 90% der Halden haben bereits seit Jahren keine Lizenz mehr oder zumindest ihre Kapazität überschritten / Moritz Gathmann, n-ost
Im 18. Stockwerk eines Wohnhauses im Süden Moskaus setzt Jewgenija Suchowa grünen Tee auf. Die alten Teeblätter trägt sie in ihr Garderobenzimmer und schüttet sie in eine schwarze Kiste mit der Aufschrift „Worm Café“. „Das hab ich mir extra aus Australien bestellt“, erklärt sie. Jewgenija öffnet den Deckel etwas weiter, und hunderte sich durcheinander windende Regenwürmer kommen zum Vorschein. „Die verarbeiten meine Bioabfälle zu Humus – darauf wächst mein Ruccola prima“, erklärt sie begeistert. Die hübsche 27-Jährige in Wollpulli und Jeans ist führendes Mitglied der Umweltorganisation „Musora.bolshe.net“, übersetzt heißt das „Kein Müll mehr“. Die bekannteste Graswurzel-Organisation des Landes vereint ganz ohne Eintrag ins Vereinsregister in über 50 Regionen Menschen, die gegen das schon 20 Jahre andauernde Zumüllen kämpfen. Die Organisation setzt in ihrer Arbeit auf Soziale Netzwerke, koordiniert ihre Aktionen über Skype, sammelt Unterstützer über Vkontakte, das russische Facebook-Äquivalent, und Twitter – und die Mitglieder packen ganz praktisch mit den eigenen Händen an.
Skype-Klingelton leitet den Kampf ein
Es ist ein Kampf, der mit dem Skype-Klingelton beginnt. Jewgenija geht an ihren PC: Mascha aus Samara, Dascha aus Nowosibirsk, Andrej aus Sankt Petersburg diskutieren mit Jewgenija, wie man auf die Schnelle noch Sponsoren findet. In ein paar Tagen soll ihre große Sammel-Aktion starten. An 500 Orten im ganzen Land soll der Müll aus der Natur geholt – und dann getrennt werden.
„Ich kann es schon seit meiner Kindheit nicht ausstehen, wenn Dinge ineffizient laufen“, begründet Jewgenija ihre Motivation. Seit einem Jahr kämpft sie nun für die Mülltrennung. „Wir wollen niemanden zwingen, sondern mit Kreativität das Bewusstsein verändern“, sagt sie.
Im Bewusstsein der Moskauer kam der Müll lange Zeit nicht vor. Unter Jewgenijas Fenster kehrt gerade ein Müllauto nach getaner Arbeit auf den Stellplatz zurück, parkt neben Dutzenden anderen. Der Müll stinkt nämlich weit vor den Toren der Stadt zum Himmel. Der Speckgürtel rund um die Hauptstadt ist das Erholungsgebiet der Moskauer – und gleichzeitig auch ihre Müllhalde. In einem Umkreis von 60 Kilometern um Moskau ist ein Netz von 86 Deponien entstanden, 90 Prozent von ihnen haben schon seit Jahren die Lizenz verloren oder ihre maximale Kapazität erreicht. Das größte Problem ist die Art des Mülls: Hier stapeln sich meterhoch Plastikflaschen, Tüten, Kekspackungen, Batterien, Glühbirnen, Flaschen. Wohlstandsmüll, ungetrennt, aus einer konsumgeilen Hauptstadt voller Einkaufszentren und Hypermärkten.
Die Müllsortierung funktioniert nicht in Russland: Für Batterien, Glas, Papier gibt es heute praktisch keine Abgabestellen / Moritz Gathmann, n-ost
„Schwermetalle, Cadmium, Quecksilber, Nickel...“ Alexej Kisseljow zählt auf, was die Müllhalden an den Boden abgeben. Der Müll-Experte von Greenpeace führt seit Jahren heimlich Messungen auf den Deponien durch. „Der Großteil von ihnen entspricht nicht den Anforderungen der russischen Gesetzgebung“, erklärt er. Unzählige Klagen hat er deshalb gegen die Betreiber der Müllhalden geführt. Und jedes Verfahren verloren, weil der Betreiber meist der Stadt gehört. „Eine Besonderheit der russischen Gerichte“, sagt er schmunzelnd.
Kisseljow schätzt die Zahl offizieller und „wilder“ Müllhalden im Land auf mehrere Zehntausend. „Das Müllproblem bereitet den Kommunen Kopfschmerzen“, erklärt Kisseljow. In Moskau oder Sankt Petersburg haben die Bürger genug Geld, um zumindest eine geordnete Müllabfuhr zu bezahlen. Die Behörden in ländlichen Gebieten, wo den Bewohnern das Geld für den Abtransport des Mülls fehlt, lösen das Problem anders. „Ein LKW wird bezahlt, der den Müll abholt und ihn auf einer illegalen Müllhalde ablädt“, erklärt Kisseljow. Doch auch in Moskau ist das Problem inzwischen mit Geld nicht mehr zu beheben.
Vor einigen Jahren erhöhte der Gouverneur dieses „Moskauer Gebiets“, in dem einige der illegalen Halden stehen, den Druck auf die städtischen Behörden: Die Müllhalden sollten baldmöglichst geschlossen werden. Gleichzeitig wächst das Müllaufkommen der größten Stadt Europas aber jährlich um neun Prozent. 2005 trat deshalb in Moskau ein Gesetz in Kraft, das zwar nicht die Privathaushalte, aber zumindest alle Firmen und Behörden bei Strafe verpflichtet, den eigenen Müll zu trennen. „Aber nicht einmal das Bürgermeisteramt trennt seinen Müll“, erklärt Kisseljow halb weinend, halb lachend. Stattdessen gab der damalige Bürgermeister Luschkow die Anweisung zum Bau von zehn Müllverbrennungsanlagen, die fortan einen Großteil des Moskauer Mülls entsorgen sollten.
Protest wurde zum Erweckungserlebnis
Greenpeace schlug Alarm: Die Verbrennung von unsortiertem Müll werde entgegen der offiziellen Erklärungen die Wohngebiete rund um die Müllverbrennungsanlagen verschmutzen. Die Bewohner der betroffenen Viertel gingen in den folgenden Monaten auf die Straße, sammelten über 100.000 Unterschriften gegen den Bau. Die Stadt stoppte tatsächlich den Bau der Anlagen – aber das Problem ist weiter ungelöst. Der Protest wurde jedoch für viele zum Erweckungserlebnis, auch Musora Bolshe Net erfuhr danach einen ungeahnten Zulauf an Aktivisten.
Denn auch die Müllsortierung funktioniert nicht in Russland: Für Batterien, Glas, Papier gibt es heute praktisch keine Abgabestellen. Dabei wissen die meisten Russen aus der jüngsten Vergangenheit, dass es auch anders geht: Zu Sowjetzeiten nahmen Schwer- und Chemieindustrie zwar wenig Rücksicht auf die Umwelt, aber das Problem der Hausabfälle war weitaus besser geregelt. Für Flaschen existierte ein Pfandsystem, Altmetall wurde gesammelt, Papier gaben die Bürger an Sammelstellen ab, wo sie dann Gutscheine für die örtliche Buchhandlung bekamen. Der Staat ging sparsam mit seinen Ressourcen um. Das alles brach mit dem Ende der Sowjetunion zusammen. Dafür kamen Plastiktüten und Aludosen.
Inzwischen ist es Sonntag geworden, heute soll die landesweite Sammelaktion von Musora Bolshe Net starten. Der Tag, an dem Jewgenija und die ihren das große Land aufräumen wollen, ist in Moskau regnerisch. In einem kleinen Wald zieht Anna Mitrofanowa zusammen mit fünf Mitstreitern den Müll aus den Büschen: Haushaltsmüll, alte Kommoden, Matratzen – und Flaschen über Flaschen. „Das ist typisch: Die machen hier ein Picknick, trinken Wodka – und dann bleibt alles liegen“, sagt Anna. In nur einer Stunde haben sie ein Dutzend großer Plastiksäcke gefüllt. Später holt ein Lastwagen die Säcke ab, in dem kleinen Vorort von Moskau gibt es tatsächlich ein Mülltrennungsunternehmen. Eine Ausnahme. Weniger als drei Prozent des russischen Mülls werden weiterverarbeitet.
An einem Tag soll an 500 Orten in Russland Müll gesammelt werden / Moritz Gathmann, n-ost
Ein paar Tage später ist Jewgenija Suchowa noch damit beschäftigt, die Ergebnisse des Aktionstages aus dem ganzen Land zu sammeln. Es sind nicht ganz 500 landesweite Aktionen geworden, aber ihrem Glauben an die Sache, an den Enthusiasmus ihrer Aktivisten, hat das nicht geschadet. Und sie scheinen den Nerv der Zeit zu treffen. „Der Großteil der Moskauer ist heute dagegen, Müll einfach wegzuwerfen“, ist auch Kisseljow überzeugt. Eine Umfrage der Stadtverwaltung aus dem letzten Jahr bestätigt seine Worte: 80 Prozent der Bewohner zeigten sich interessiert an dem Thema Mülltrennung.
Die russische „Müll-Revolution“ rollt an
Doch die Politik reagiert langsam, es gibt keine effektiven Regelungen oder Gesetze. Und es gibt in Russland keine „Grünen“ oder sonst eine politische Kraft, die Umweltschutz zum Thema machen würde. Vor einigen Wochen wandten sich die Vertreter der kremlgesteuerten Jugendorganisation „Nashi“ an Musora Bolshe Net. Die Popularität der Aktivisten war jenen verdächtig geworden, sie witterten Kreml-Opposition. „Die konnten nicht verstehen, dass wir das wirklich ohne Geld und ohne politisches Interesse machen“, sagt Jewgenija lachend. „Heutzutage“, ist sie überzeugt, „braucht man keine großen finanziellen Ressourcen, um etwas zu bewegen.“ Doch auch die Kreml-Jugend hat nun das Thema für sich entdeckt. Sie plant für 2012, wenn im März die Präsidentschaftswahlen sind, ein Projekt „Grünes Russland“. Dafür wollten sie auch mit Musora Bolshe Net zusammenarbeiten. Die Müll-Aktivisten gaben der Kremljugend allerdings eine Abfuhr. Die russische Müll-Revolution will nicht politisch vereinnahmt werden. Doch unaufhaltsam rollt sie an.