Ferner Osten in Angst
RUSSLANDS FERNER OSTEN IN ANGST
Während Moskau gegenüber Japan auf plötzliche Gesten der Völkerfreundschaft setzt, sind die Menschen in Russlands fernem Osten in Angst. Sie fühlen sich von der Regierung allein gelassen.
Plötzlich pflegt Russland wieder die Völkerfreundschaft mit seinem Nachbarland Japan. Schon in den ersten Stunden nach dem Erdbeben not Moskau seine Hilfe an. Kurz nach dem Unglück landeten die ersten Flugzeuge mit Bettdecken und Matratzen in Japan. Auch Rettungshelfer und Atomenergie-Spezialisten flogen ins Katastrophen-Gebiet. Die Verwaltungen der fernöstlichen Regionen in Russland erklärten sich bereit, japanische Flüchtlinge aufzunehmen. Außenminister Sergej Lawrow brachte Blumen zur japanischen Botschaft. Der Leiter der Liberal-Demokraten Wladimir Schirinowski – der gerne mit nationalistischen Reden auf sich aufmerksam macht und in Russland als Politclown gilt – schlug sogar vor, alle Japaner nach Russland umzusiedeln und so gleich das demographische und wirtschaftliche Problem im russischen Fernost zu lösen.
Das ist eine Kehrtwende in den zuletzt angespannten Beziehungen zwischen beiden Ländern. Bislang sorgte der Konflikt um die pazifischen Kurilen-Inseln für Spannungen. Japan fordert die Südkurilen zurück, die die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg eingenommen hatte. Als Russlands Präsident Dimitri Medwedew kurz vor der Katastrophe die Kurilen besucht hatte, gab es mehrere Protestaktionen in Japan, auch die russische Fahne wurde verbrannt. Nach Medwedews Besuch sann Russland auf Rache: Das russische Parlament wollte einen neuen Feiertag einführen, den Tag des Sieges über das imperialistische Japan. Die kremltreue Jugend Naschi hatte eine anti-japanische Aktion geplant, wollte demonstrativ die russische Flagge auf den Südkurilen hissen.
Nun hat das Parlament den neuen Feiertag abgelehnt, Naschi die Fahnen-Pläne abgesagt. Stattdessen bot die Kremljugend japanischen Kindern Asyl im russischen Fernost an. Und Ministerpräsident und Judoka Putin soll laut Medienberichten die japanische Judo-Nationalmannschaft zum Trainingslager eingeladen haben.
Den Menschen in Russlands fernem Osten helfen solche Versöhnungsgesten unterdessen wenig. Sie plagt die Angst vor der radioaktiven Wolke. Einige Regionen liegen nur 800 km von den zerstörten Reaktoren in Fukushima entfernt. In vielen Gegenden kommt es zu Hamsterkäufen, Jod und Schutzmasken sind fast ausverkauft. Viele Bewohner messen selbst die Strahlung und tauschen sich auf Blogs darüber aus. Den offiziellen Angaben trauen nur die wenigsten. Die User beschweren sich über die schlechte Informationspolitik – sowohl von japanischer als auch von russischer Seite.
Gerade in der russischen Blogosphäre – die als Spiegel der öffentliche Meinung und Zivilgesellschaft funktioniert – zeigt sich die Spaltung in der Gesellschaft. Neben Unterstützungs-Kampagnen für Japan, gibt es vor allem im westlichen Teil Russlands Reaktionen vom Schulterzucken bis hin zur Schadenfreude. Eine populäre Meinung formuliert der bekannte Blogger Anton Nossik, der fast 30.000 Leser hat: „Für mich ist die Katastrophe in Japan ist nur Teil der Weltstatistik.“
Unterdessen machen sich die Menschen im Fernen Osten auf das Schlimmste gefasst. „Wir kennen die Geschichte von Tschernobyl viel zu gut“, lautet ein Kommentar im offiziellen Blog von Komsomolsk-am-Amur.