Moskau nach dem Anschlag
Die Fahrt zum Flughafen am Montagabend ist gespenstisch: Die vierspurige Straße ist gesäumt von Birken und Kiefern, die sich, mit dickem Eis bedeckt, wie Trauerweiden zu Boden senken. Bläulich schimmert der langgezogene Schlauch des Hauptgebäudes von Domodedowo, Rettungswagen jagen mit Blaulicht in die Stadt. Es ist der modernste und größte Flughafen der Hauptstadt, ein 135.000 Quadrameter großes Aushängeschild Russlands aus Glas und Beton. „Direktflüge nach Hong Kong, New York, Rio de Janeiro“, wirbt eine Fluggesellschaft auf großen Reklametafeln. „Was, ein Terroranschlag?“ Der junge Russe, braungebrannt und in Flip-Flops, der da Stunden nach der Explosion aus dem Gang des internationalen Terminals kommt, ist ahnungslos. „Ich komm grad aus dem Urlaub in Dubai. Jetzt muss ich erstmal nach Hause, und da schau ich mir alles an.“ Die Reaktion ist symptomatisch an diesem Abend. Die meisten Ankommenden wurden während des Fluges nicht über die Tragödie informiert, die sich hier ereignete, während sie in der Luft waren.
„Der Flughafen funktioniert planmäßig“, wiederholte eine Stimme über die Lautsprecher stoisch. Und während am Montagabend mehrere Flüge gestrichen wurden, hatte sich die Situation am Dienstag bis auf die üblichen Verspätungen wieder völlig normalisiert. Auch in Moskau war bis auf eine leicht erhöhte Polizeipräsenz an den Metrostationen nichts zu merken. Stattdessen: Sonnenschein, Staus auf den Straßen, Drängeleien in der Metro. Ein ganz normaler Wintertag in Moskau.
Inzwischen haben russische Medien rekonstruiert, wie es zu dem Attentat am Montagnachmittag kommen konnte. Der Attentäter gelangte über einen Nebeneingang vom Parkplatz in das Flughafengebäude. An diesem Eingang soll es laut der Zeitung „Kommersant“ keinerlei Metalldetektoren oder sonstige Scanner gegeben haben. In der Empfangshalle, in der sich Flugreisende und Wartende durchmischen, zündete er um 16:32 seine Bombe, die über eine Sprengkraft zwischen 7 und 10 Kilogramm TNT verfügte. Die zerstörende Wirkung der Bombe wurde noch dadurch verstärkt, dass sie mit Metallteilen und Schrauben gefüllt war. Obwohl sich bisher niemand zu dem Attentat bekannt hat, gehen die russischen Medien unter Berufung auf Quellen in den Sicherheitsbehörden inzwischen davon aus, dass der Attentäter aus dem Nordkaukasus stammt. Die Seite „lifenews.ru“ veröffentlichte sogar ein Bild, das den Kopf des Attentäters zeigt.
Es war der Twitter-User Ilya Likhtenfeld, der gegen 16.30 Uhr Ortszeit als Erster berichtete: "Terrorakt in Domodedowo! Schreckliche Explosion im Gebäude des Flughafens! Dutzende Körper auseinandergerissener Menschen!" Stunden nach dem Attentat will Ilya Likhtenfeld nicht mehr mit der Presse sprechen. Mit einem Kollegen steht der schwarzhaarige junge Mann in der Mitte des Flughafens und schaut sich auf seinem Telefon-Display Bilder von dem zerstörten Café an. „Ich bin der Besitzer des Cafés“, erklärt er. Aber mehr nicht. „Alle Informationen bekommen Sie von der Flughafenverwaltung“, sagt er und verschwindet mit der Rolltreppe in den zweiten Stock.
Es ist das zweite Mal innerhalb von zehn Monaten, dass die russische Hauptstadt von einer Explosion erschüttert wird: Ende März 2010 hatten zwei Selbstmordattentäterinnen sich in der Metro in die Luft gesprengt und 42 Menschen in den Tod gerissen. Aber doch ist alles anders. Denn am Montag attackierten die Terroristen das internationale Russland, Geschäftsleute, die heute in Dubai und morgen in New York sind. Es ist, als ob jenes Fenster gesplittert ist, durch das die Außenwelt auf das Russland schaut, das 2014 die Winterolympiade in Sotschi veranstaltet und 2018 die Fußballweltmeisterschaft. Denn was nützen schon all die versprochenen hochmodernen Flughäfen und Züge, wenn die Sicherheit nicht gewährleistet ist?
Der Anschlag in Domodedowo ist auch ein Schlag ins Gesicht des Inlandsgeheimdienstes FSB. Denn während im März 2010 viele Russen Verständnis dafür zeigten, dass eine U-Bahn mit 182 Stationen unmöglich vollkommen geschützt werden kann, lassen viele nun ihrer Wut auf Polizei und Geheimdienst freie Luft. „Die sammeln doch alle nur Schmiergelder ein“, schimpft etwa Sergej, Anrufer im Radiosender „Komsomolskaja Prawda“. „Wie soll ich das denn verstehen: Im Fernsehen wird mir erklärt, dass alles in Ordnung ist, und dann sprengen die den Flughafen hier in die Luft?“ wundert sich ein anderer. Nach Informationen russischer Medien hatte der Geheimdienst schon vor etwa einer Woche Hinweise darüber erhalten, dass es zu einem Attentat am Flughafen kommen könnte.
In den Moskauer Krankenhäusern werden nach offiziellen Angaben im Moment 110 Menschen behandelt, die beim Attentat verletzt wurden. Die Zahl von 35 Getöteten hat sich bisher nicht erhöht. Unter den Toten sind neben Russen, zwei Briten und einem Bulgaren auch der 1976 geborene Hendrik M. aus Deutschland. Und auch unter den Verletzten ist eine Deutsche: Diana S. aus Koblenz, 1975 geboren. Ihre Verletzung wird allerdings als nicht lebensgefährlich eingestuft.
Den Angehörigen hat die Stadtverwaltung das Hotel „Orechowo“ im Süden der Stadt zur Verfügung gestellt: Aber bis zum Dienstagnachmittag hat sich hier nur eine Mutter aus Nischni Nowgorod einquartiert. Allerdings hat sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um den Medien zu entgehen. Vier Psychologen und ein Priester stehen bereit, um die Angehörigen psychisch zu betreuen. „Es ist sehr schwer, in so einer Situation den Menschen Trost zu spenden“, gibt der junge orthodoxe Priester Kyrill zu, der einen langen Bart und eine lange schwarze Robe trägt: „Aber dafür, dass Gott dieses Unglück zugelassen hat, wird er wohl seine Gründe haben.“ Es klingt etwas hilflos.