Russland

Ein deutscher Kriegsveteran kehrt zurück

Nein, mit seinem Wohnwagen ist er dann doch nicht gekommen. Eigentlich wollte Wilhelm Weier ja den gleichen Weg nehmen wie damals, 1942, über Königsberg, Dünaburg und Witebsk nach Smolensk. „800 Kilometer, das ist doch nichts!“ Weier hat dann den Warnungen nachgegeben und den Flieger genommen, Hannover-Moskau, von hier sind es ein paar Stunden mit dem Auto bis Smolensk. Diesmal von Ost nach West. Die Fahrt geht vorbei an Ikea, Bürotürmen, Autobahnkreuzen. „Unglaublich“, sagt Weier und wirft die Hände nach oben, „dass sich das so verändert hat!“ Was er vor 68 Jahren von Russland gesehen hat, waren Rollbahnen, Schlamm und Tod.

Weier ist heute ein 86 Jahre alter und ein agiler Mann, einer „vom alten Schlag“, wie die Russen anerkennend bemerken. Er trägt ein Jeans-Hemd und schwere Stiefel. Seine Abenteuerlust – sie hat den 1924 in der Nähe von Hannover geborenen Weier dazu gebracht, mit 17 freiwillig zu den Fallschirmjägern zu gehen, sie hat ihn 1942 nach Russland geführt, nach Sizilien, Montecassino und in die Ardennen. Dass sie nicht zu seinem Tod geführt hat, ist ein Wunder: Von den 2.400 Soldaten seiner Einheit, mit denen er angefangen hat, waren 1945 nur noch ein paar Dutzend übrig. Weier ist ein Draufgänger, und deshalb ist er nun hier und blickt durch seine Brille in dem altmodischen Drahtgestell auf das Land, das er vor 68 Jahren zu erobern auszog.


Kriegsveteran Wilhelm Weier macht sich 69 Jahre nach dem Beginn des Unternehmens „Barbarossa“ auf den Weg nach Smolensk / Moritz Gathmann, n-ost

Er will ein Versprechen einlösen. Im April 1943, vor dem Abmarsch, da sang er vor dem Soldatenfriedhof in Tinowka, einem kleinen Dorf 50 Kilometer von Smolensk, „Rot scheint die Sonne“, die Hymne der Fallschirmjäger. Er schwor damals, wiederzukommen. Es hat gedauert: Nach dem Krieg baute er eine Pferdezucht auf, lebte dann lange in Kanada, als Ranger in den Yukon-Territorien. Noch so ein Abenteuer.

An seinen anderen Einsatzorten war er schon, in Montecassino hat er sich mit Neuseeländern getroffen, den Gegnern von damals, sogar Freundschaft geschlossen. Aber Russland? „Die bringen dich um“, warnten ihn seine Freunde immer wieder. Im Frühjahr ist seine Frau gestorben. „Da hab ich mir gesagt: Jetzt musst du los“, sagt er. Weier rief die Kriegsgräberfürsorge an, und als die ihm erzählten, dass sie gerade einen großen Sammelfriedhof für deutsche Soldaten in Smolensk aufbauen, fiel er aus allen Wolken. Da hatte er doch gekämpft! Er fackelte nicht lang, packte als Notration ein paar Scheiben Schwarzbrot und Schinken in seinen Rucksack, und dann ging es los.

Nun, Mitte September, lehnt sich der Draufgänger an eine große Birke. „Ich schwitze innerlich, ich fühle mich unwohl“, sagt er. Der 86-Jährige hat mehrere hundert Kilometer im Auto hinter sich, zuletzt auf einer staubigen Piste. Er sieht offene Gruben, daneben grüne Plastiksäcke. Daraus schauen erdverkrustete Knochen hervor, Unterkiefer, manchmal Schädel, hier und da sogar Stiefel, es könnten seine sein. Aber sie gehören seinen Kameraden, beerdigt in Tinowka, und es sind mehrere Hundert. Nie spricht Weier über den Tod, nie. „Das war wie Sport für uns – wer besser schießen kann, Handgranaten werfen und so“, sagt er einmal. Jetzt presst er nur ein „Es war ja alles vergeblich... ein Wahnsinn...“ heraus. Weiers Augen blicken leer auf den Boden, mit dem Zeigefinger streicht er sich über die spröden Lippen. In der Luft hängt Vogelgezwitscher und der Geruch frischer Erde.

Aufmerksam beobachten die Totengräber den Besucher, allesamt raue Burschen, manche von ihnen haben in Afghanistan oder Tschetschenien gekämpft. Für 2,50 Euro die Stunde graben sie nun für die Kriegsgräberfürsorge Weiers Kameraden aus dem sandigen Boden der „Smolenschina“.

Abends laden sie den Veteranen ins Försterhaus ein. Über dem Lagerfeuer brutzelt der Schaschlik, auf dem Tisch werden die Plastikbecher mit Wodka gefüllt. Weier stellt sich immer wieder mit der Videokamera an die Seite und filmt. „Tolle Jungs sind das, nech?“ Sie sind die Enkelkinder, die er nie hatte. Sein Sohn, heute ein Bankier, wollte nie Kinder. Die 68er seien daran schuld, behauptet Weier.

Die Totengräber von Smolensk fragen ihm Löcher in den Bauch. Wo genau seine Position  war, welche Waffen sie hatten, wie es im Nahkampf war? Weier liebt diese Fragen, er erzählt auch gerne von der russischen Propaganda: „Kommt rüber, wir haben Weiber“, hätten die Russen über Lautsprecher wissen lassen. Und immer wieder hätten sie ein vier Meter hohes Hitler-Bild aufgestellt und gerufen „Schießt auf euren Führer“. „Klar, haben wir auch gemacht. Hoch, ratatata, und wieder runter. Ein Riesenspaß!“ Die Jungs lachen, klopfen Weier auf die Schulter. Besonders gefällt ihnen auch, dass Weier betont, in den Russen immer nur Gegner, nie aber Feinde gesehen zu haben. Dann lässt er ein paar deftige russische Flüche fallen, die er aus dem Nahkampf kennt. Die Jungs johlen. Immer neue Trinksprüche, der Wodka fließt in Strömen, ein Afghanistan-Veteran und ehemaliger Fallschirmspringer stößt mit ihm auf die Ehre der Zunft an. „Tolle Jungs, tolle Jungs.“ Weier ist zu Tränen gerührt.


„Aufmerksam beobachten Weier die Totengräber, allesamt raue Burschen, manche von ihnen haben in Afghanistan oder Tschetschenien gekämpft.“ / Moritz Gathmann, n-ost

Dann ist plötzlich Musik zu hören, schwermütige Klänge, „schwarzer Rabe, warum kreist du über mir“, singt eine Männerstimme. Auf einem Handy läuft der Videoclip zu dem Lied, deutsche Soldaten geben verletzten Rotarmisten den Gnadenschuss. „Willi, ich will nur eins wissen: Haben Sie so etwas gemacht?“, fragt Slawa, der Tschetschenien-Veteran. Weier wendet sich von dem kleinen Bildschirm ab. „Schon die Frage ist so widerlich. Ich will da gar nicht drauf antworten, ich...“, Weier ringt mit seiner Fassung. Das Lagerfeuer knistert, ein leichter Regen hat eingesetzt. „Mir wär es gar nicht in den Sinn gekommen, einen Gefangenen schlecht zu behandeln! Wir haben uns immer korrekt verhalten. Sie können in neuseeländischen Zeitungen nachlesen, wie ich in Cassino einen Panzer abgeschossen und dann dem verletzten Panzerkommandeur Wasser geholt hab!“ Die Russen sehen etwas ratlos aus. Neuseeland? „Jawohl, das können Sie da nachlesen.“

Fallschirmjäger Weier weiß nicht, vielleicht will er es nicht wissen, dass andere Deutsche sich hier anders verhalten haben. Das Smolensker Gebiet war über zwei Jahre besetzt, in dieser Zeit wüteten hier SS-Divisionen und die Einsatzgruppe B, deutsche Einheiten töteten zur Vergeltung für Partisanenattacken zehntausende Zivilisten, hunderttausende wurden als Zwangsarbeiter ins Reich deportiert.

Weier aber ist auf der Suche nach einem Soldatenfriedhof, hier in Luschki, 1942 sein Bataillonshauptquartier, 2010 ein heruntergekommenes Dorf. Weier hat ein Foto des Friedhofs dabei: Eine verschneite Dorflandschaft, vorne eine Weggabelung, und zwischen den Wegen Kreuze mit Helmen darauf. Tatsächlich findet Weier den Ort ohne große Mühe wieder. Er sieht zufrieden aus: „Das ist ne Leistung, nech? Dass ich das nach all den Jahren wieder gefunden hab. Bestätigt mir nochmal meine Lebensdevise: Der Weg ist das Ziel.“ In Luschki war er vor 67 Jahren einquartiert, wenn er nicht im Schützengraben lag. Und am liebsten erinnert er sich an die 16-jährige Maria, ein Mädchen, das die Dorf-Banja, die russische Sauna, für die Soldaten anheizte und ein bisschen Deutsch sprach. „Aber natürlich völlig unnahbar,“ schiebt Weier schnell nach. Sie hätten sich immer korrekt verhalten.

Auf dem abgeernteten Feld hinter ihrer Holzhütte steht Maria, sie ist mindestens so alt, wie sie aussieht, 85 Jahre. Gelehnt auf einen hölzernen Rechen, ein schwarzes Tuch um den Kopf, kaum mehr Zähne im Mund, die Füße in Wollsocken eingewickelt. Es riecht nach verbranntem Heu. „Guten Tag“, sagt Willi Weier und gibt ihr die Hand. Der 86-Jährige ist plötzlich aufgeregt. Doch Maria, so muss er erfahren, ist eine andere. Jene Maria aus Luschki ist fortgezogen. Diese Maria aus Luschki erzählt. Aber nicht von Banja und korrekten Deutschen.

Sie erzählt davon, wie sie von den Soldaten mitgenommen wurde, vom Typhus, von tagelangen Fußmärschen. Die alte Frau hat lange nicht mehr davon berichtet, und jetzt werden ihre Augen feucht. „Und als ich nicht mehr laufen konnte, hab ich mich an einem Pferd festgehalten, und ein Deutscher hat mich mit einem Stock geschlagen, immer wieder, bis ich losgelassen hab“, erzählt Maria. „Ein Deutscher?“, Weier kann es nicht glauben. Maria macht weiter: Ihr vierjähriger Bruder sei damals verhungert, einfach liegengeblieben. „Vielleicht reicht es?“, fragt Weier seine Begleiter. Er wendet sich zum Gehen, aber Maria ruft hinterher. „So viele Granaten, so viel Feuer“, sagt sie, „wir haben uns damals gewundert, dass überhaupt jemand von euch überlebt hat! “ Weier dreht sich um. „Ja, darüber haben wir uns auch gewundert.“


Auf einem Feld unterhält sich Kriegsveteran Weier mit der 85-jährigen Russin Maria / Moritz Gathmann, n-ost

Der Morgen des 20. März 1943 muss die Hölle gewesen sein, auch wenn es in Weiers Erzählungen nicht so klingt. Mehrere Tausend sowjetische Soldaten attackieren mit Unterstützung von Panzern und Stalinorgeln die Knobloch-Höhe, einen Erdhügel zwischen Minenfeldern und Sumpf, an dem sich 1.200 Fallschirmjäger aus Weiers III. Bataillon eingegraben haben. 10.000 Schuss aller Kaliber prasseln in wenigen Stunden auf die Deutschen nieder. Weier sieht, wie die sowjetischen Kommandeure Welle um Welle ihrer Soldaten auf die deutschen Stellungen hetzen, oft ohne Waffen: Sie sollen die Gewehre der Gefallenen benutzen. Nach harten Kämpfen erobern die Sowjets die Knobloch-Höhe, von Weiers Kompanie bleiben nur wenige am Leben. Mehrere hundert Deutsche fallen in diesen sieben Tagen, die Verluste der Sowjets gehen in die Tausende, und am Ende erobern die Deutschen die Knobloch-Höhe zurück. „Warum haben die Sowjets uns damals angegriffen?“ Weier hat das bis heute nicht verstanden.

Es regnet heftig, als Wilhelm Weier zurück nach Smolensk fährt. Der goldene Herbst ist vorbei, so ähnlich wie jetzt muss das Wetter im Oktober '42 gewesen sein, als er hier ankam. Eine Smolensker Journalistin hat den Veteranen in das „Museum der Smolenschina im Großen Vaterländischen Krieg“ eingeladen.

Wiktor, der Museumsführer, mag die Deutschen, ein Offizier hat seiner Oma im Krieg das Leben gerettet. Er ist sogar der Meinung, dass die Welt in Frieden leben wird, wenn die Deutschen und die Russen gemeinsame Sache machen – aber dass die Engländer und Amerikaner das nicht wollen. Weier atmet schwer. „Naja“, sagt er.

Wiktor zückt einen Erklärstock und zeichnet vor einer großen Militärkarte mit viel Liebe zum Detail die „Schlacht von Smolensk“ im Herbst 1941 nach. Es war das erste Mal, dass Hitler an der Ostfront in die Verteidigung gedrängt wurde, deshalb ist sie für die Russen so wichtig. Doch welche Division von wo mit wie vielen Stalinorgeln angriff, wird selbst Weier irgendwann zu viel. Er geht die Treppe hoch, in den ersten Stock: Die Zeit der Besatzung, Sommer '41 bis Herbst '43. Es war eine schlechte Zeit für die Bewohner. Gleich im ersten Raum – Bilder von deutschen Erschießungskommandos und aufgeknüpften Partisanen. Wiktor erzählt von den Greueltaten der Einsatzgruppen gegen die Zivilbevölkerung. „So war das eben im Partisanenkampf“, protestiert Weier. Aber es kommt noch schlimmer: Folterinstrumente, verhungerte Russen, die auf Leiterwagen aus den Lagern gefahren werden, weiße Handschuhe aus Auschwitz, die angeblich aus Menschenhaut sind. Dass die Deutschen allein im Smolensker Gebiet 2.000 Dörfer niedergebrannt haben, und 300 davon zusammen mit den Menschen, hört der 86-Jährige nicht mehr. Wilhelm Weier sieht plötzlich sehr müde aus. Es könnte an dem gestrigen Wodka-Abend mit den Totengräbern liegen. Er setzt sich auf ein Sofa, liebevoll streichelt er die Museumskatze. Voller Zuneigung schmiegt sie sich an sein Hosenbein.


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