Ein kleiner Sieg
All jene, die in den letzten Wochen demonstriert haben, kehren am Montagmorgen widerwillig in eine Realität zurück, gegen die sie sich mit allen Kräften gewehrt haben: Wladimir Putin wird weitere sechs Jahre als Präsident ihre Geschicke lenken. Max Katz dagegen feiert seinen Sieg: Der Politikneuling hat es auf Anhieb geschafft, in den Bezirksrat des Moskauer Stadtteils Schtschukino einzuziehen. Es ist ein kleiner Sieg, aber er macht Hoffnung.
Als alles klar ist gegen acht Uhr am Montagmorgen, torkelt ein todmüder und glücklicher Max Katz, Kandidat bei den Bezirkswahlen im Moskauer Stadtteil Schtschukino, aus der Bezirkswahlkommission, twittert „Ich bin zu 90 Prozent sicher, dass ich es geschafft hab“, fährt mit dem Lift in den zehnten Stock eines neuen Wohnhauses im Nordosten Moskaus und legt sich ins Bett. Die meisten seiner Freunde schlafen schon längst, und haben den Sonntagabend eher als Alptraum erlebt: Als ein Moderator im Staatsfernsehen nach 18 Uhr die ersten Hochrechnungen vorträgt, wird zur Sicherheit, was viele ahnten, aber nicht wahrhaben wollten: fast 64 Prozent für Wladimir Putin. Er wird bis 2018 als Präsident ihre Geschicke lenken.
Mehr als 24 Stunden zuvor: Es ist noch dunkel am Sonntag, kurz nach sieben Uhr, als Katz den ersten Schritt auf seinem Marsch durch die Institutionen macht. „Mein Name ist Max Katz, ich bin 27 Jahre alt. Am 4. März werden die Wahlen in den Bezirksrat von Schtschukino stattfinden. Das ist ein völlig sinnloses Organ, das über keinerlei Vollmachten verfügt“, hatte er auf seinem Flugblatt geschrieben. „Alle haben mir geraten, dass ich, wie alle anderen, Versprechungen machen soll: dass ich korrupte Beamte bestrafen und die Kosten für Gas und Wasser senken werde. Aber ich wollte ehrlich sein“, sagt Katz, während er seinen schwarzen Opel durch die vollgeparkten Hinterhöfe des Stadtteils Schtschukino lenkt. Rund um die neuen Wolkenkratzer stehen sehr viele Autos: Der Stadtteil gilt als wohlhabend, Mittelschicht, viele junge Leute.
Das Auftreten des 27-Jährigen erinnert an Joschka Fischer in Turnschuhen im deutschen Bundestag vor drei Jahrzehnten: Jeans, blauer Pullover mit Norweger-Muster, Kapuzenjacke. Katz hat sein Geld vor allem mit Pokern im Internet verdient, er ist russischer Pokermeister und auch international ein gefürchteter Spieler. Der Kontrast zu den üblichen Politikern, aber auch den Vorsitzenden in den Wahllokalen, könnte größer nicht sein.
Dass es hier auch um einen Generationenkonflikt geht, sieht man gleich im ersten Wahllokal: auf der einen Seite die Wahlkommission – ältere Schuldirektorinnen in Kostümen und mit Steckfrisuren, Männer in grauen Anzügen und mit ernsten Mienen, man spricht sich höflich mit Vor- und Vatersname an: „Galina Wiktorowna“ sagen sie und „Pawel Michailowitsch“. Und auf der anderen Seite die 25-Jährigen in Jeans und Turnschuhen, die auf den Sofas vor Gummibäumen und staubigen, rosa Vorhängen sitzen und ihre Beobachtungen in Echtzeit auf Twitter und Facebook posten.
Die meisten von ihnen sind zum ersten Mal Wahlbeobachter. „Nach den Duma-Wahlen habe ich verstanden, dass man sich nicht betrügen lassen darf“, sagt etwa der 43-jährige Maxim, von Beruf Manager. Er sitzt in einer Schule im Bezirk Schtschukino, in der gleich drei Wahllokale untergebracht sind. In einem erhielt „Einiges Russland“ im Dezember 30 Prozent der Stimmen, ein Stockwerk darüber 60. „Da wurde ganz klar gefälscht“, sagt Maxim, und deshalb ist er jetzt hier.
Allerdings glaubt schon am Nachmittag kaum einer daran, dass Putin in eine zweite Wahlrunde muss. Nicht nach einem Wahlkampf, in dem Putin jeden Tag stundenlang über den Bildschirm flimmerte und in dem mit Wladimir Jawlinski der einzige wirkliche Oppositionskandidat aus dem Rennen geworfen wurde. Deshalb kandidiert Katz auch für den Bezirksrat: Es ist der Anfang eines Wandels von ganz unten.
Klar, bei den Demos nach den gefälschten Duma-Wahlen im Dezember war Katz dabei, aber er hat früh verstanden, dass Putin wohl die Präsidentenwahl gewinnen wird. Damals las er einen Aufruf der oppositionellen „Jabloko“-Partei zu den Bezirksratswahlen. „Eigentlich hatte ich immer den Plan, erst mit 35 Jahren in irgendeiner kleineren russischen Stadt Bürgermeister zu werden und dann meine städtebaulichen Pläne auszuprobieren“, erzählt Katz. Er gehöre nicht zu den „frustrierten Städtern“, als welche die Protestler von den Medien gerne identifiziert werden. „Ich bin ja eigentlich ganz zufrieden“, sagt er.
Aus ganz Russland registriert die Wahlbeobachter-Organisation „Golos“ am Sonntag Wahlrechtsverletzungen. Über 2.500 sind es am Ende, besonders oft so genannte „Karusselle“: Wähler werden mit Bussen von Wahllokal zu Wahllokal transportiert und stimmen mehrfach ab, meist für Geld. Die russische Zentrale Wahlkommission, deren Leiter Wladimir Tschurow seit Jahren die Wahlsiege von Putin und „Einiges Russland“ absegnet, beschwichtigt allerdings: Bisher seien nur gut 500 offizielle Beschwerden bei ihnen eingegangen, die natürlich genau überprüft würden. Üblicherweise, so auch nach den Duma-Wahlen, wird der Großteil der Beschwerden am Ende zurückgewiesen.
Im Wahllokal 2997 in Schtschukino kommt es derweil zum ersten Konflikt: Die Beobachter, allesamt Neulinge, kritisieren den Wahlleiter dafür, dass er die Wählerzahlen mit Bleistift und nicht mit Kugelschreiber einträgt. Max Katz versucht zu beschwichtigen. Der Vize-Wahlleiter, ein bulliger Russe um die 40, nach eigener Auskunft Jude, beugt sich zu ihm herüber und flüstert: „Eigentlich halte ich es nicht für richtig, dass ein Israeli hier kandidiert.“ Katz reagiert ruhig: „Ich habe keinen israelischen Pass.“ Darauf der Vize-Wahlleiter: „Sei vorsichtig.“ Max lächelt: „Die meisten Anfeindungen habe ich übrigens von anderen russischen Juden bekommen‟, sagt er. Am Ende gibt sich der Wahlleiter geschlagen, überschreibt die Bleistiftzahlen mit Kugelschreiber.
Inzwischen ist es dunkel geworden in Schtschukino, um sechs Uhr haben die Wahllokale geschlossen, die Wahl ist aus. Max Katz steht wieder im Wahllokal 2997. „Hier wollen die irgendein Ding drehen“, vermutet er. Denn neben den sechs unabhängigen Wahlbeobachtern, allesamt ziemlich junge Russen, stehen nun sechs bullige Typen in schwarzen Anzügen, die sich als Beobachter ausgeben, aber eher an Türsteher erinnern. Irgendwann fangen sie an, Katz zu filmen, einer zeigt ihm den Stinkefinger. Katz bleibt ruhig.
Es folgen weitere Provokation: Der Wahlleiter und sein Stellvertreter schreien bei jeder Gelegenheit hysterisch, irgendwann gelingt es ihnen, das einzige unabhängige Mitglied der Wahlkommission auszuschließen. Die Männer in den schwarzen Anzügen versuchen, Katz und seine Beobachter mit allen Mitteln zu provozieren. Die Wahlbeobachter reagieren damit, eine Beschwerde nach der anderen zu schreiben. Am Ende verlassen die Männer in Schwarz das Wahllokal und fahren in einer Maybach-Limousine davon. „Es könnte sein, dass wir sie an Wahlfälschungen gehindert haben“, sagt Katz. Gegen zwei Uhr nachts sind die Stimmen zur Präsidentschaftswahl gezählt: 52 Prozent für Putin in diesem Wahllokal. „Das kann ich nicht glauben“, sagt eine junge Wahlbeobachterin, den Tränen nah.
Ebenfalls den Tränen nah steht Wladimir Putin an diesem Abend auf dem Manegenplatz vor dem Kreml: „Wir haben gesiegt“, erklärt er da von der Bühne herab und bedankt sich bei den Zehntausenden, die vor ihm stehen. „Putin, Putin“, antworten sie. Und es sind darunter Hunderte, die sich so zehn Euro verdienen.
Aber Max Katz hat es geschafft: Von den 16 Kandidaten bekommt er am Ende die drittmeisten Stimmen und zieht als eines von fünf Mitgliedern in den Bezirksrat ein. Der erste Schritt ist getan.