Gewalt kehrt nach Tschetschenien zurück
Nach 15 Jahren Krieg und Zerstörung ist in den ewigen Unruhe-Herd Tschetschenien noch immer keine Normalität eingekehrt. Selbstmordattentate stehen auf der Tagesordnung
(n-ost) – Es ist Freitagnachmittag in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, kurz nach zwei, das Hauptgebet geht zu Ende. Tausende Tschetschenen strömen aus der Achmad-Kadyrow-Moschee, einem marmornen Prachtbau, der im vergangenen Herbst fertiggestellt wurde. Draußen brennt die Sonne, und auf dem Wladimir-Putin-Prospekt hinter der Moschee fließt der Mittagsverkehr. Einige Tschetschenen setzen sich an die Springbrunnen neben der gerade erst eröffneten „Russischen Islamischen Universität“, sie diskutieren über die Predigt des Imams. „Selbstmordattentäter können nicht barmherzig sein“, hat er die auf Teppichen knieenden Tschetschenen belehrt.
Später, im Abendfernsehen, wird auf „Grosny-TV“ ein anderer Imam von der „goldenen Zukunft“ sprechen, von der die Tschetschenen so lange geträumt hätten und die nun endlich eingetreten sei. Untermalt wird seine Erzählung von getragenen Streicherklängen, dazu Bilder vom Putin-Prospekt, wo sich Schönheitssalon an Café reiht, und von Wohnvierteln, wo kaum ein Haus mehr an den Krieg erinnert, der die Menschen dieses Landes 15 Jahre lang gequält hat: Der 32 Jahre alte Präsident Ramsan Kadyrow hat aus Ruinen innerhalb weniger Jahre blühende Landschaften gemacht.
Doch seit die russische Armee Mitte April ihre knapp zehnjährige „konterterroristische Operation“ offiziell beendet und die Macht an örtliche Sicherheitskräfte übertragen hat, sprengen sich in Tschetschenien und den nordkaukasischen Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien fast jede Woche junge Männer in die Luft. Sie sind 25, manchmal erst 18 Jahre alt. Meist reißen sie bei ihren Anschlägen Polizisten mit in den Tod. Auf den Straßen von Grosny stehen nervöse Uniformierte mit Maschinenpistolen im Anschlag. Jeder, der ihnen zu nahe kommt, könnte einer der selbst ernannten „Schahide“ sein – Märtyrer im Namen Allahs.
Uvays ist an diesem Freitag nach Schali gefahren, eine Stadt 35 Kilometer südöstlich von Grosny. Zwei „Märtyrer“ haben sich in der vergangenen Nacht an einem Polizeiposten in die Luft gesprengt, unter den Verletzten ist der 22-jährige Polizist Amin, ein Cousin von Uvays. Mehrere Dutzend Onkels, Cousins und Tanten halten nun nach tschetschenischer Tradition vor dem Krankenhaus Wache. In kleinen Gruppen hocken sie auf den Bordsteinen und warten auf Neuigkeiten: Amin wird im künstlichen Koma gehalten, eine Metallkugel steckt in seinem Kopf. Erst vor wenigen Monaten ist er Polizist geworden, abends studierte er Geschichte. Natürlich hatte sein Vater ihn vor dem Berufsrisiko gewarnt. „Aber für junge Leute gibt es hier nur zwei Möglichkeiten, Geld zu verdienen – entweder als Polizist oder als Bauarbeiter“, sagt der Vater, der nach der zweiten schlaflosen Nacht dicke Augenringe hat.
Amins Verwandte haben schnell herausgefunden, wer der Attentäter war: ein junger Mann aus der Stadt Argun, nur ein Jahr jünger als Amin. Vor etwa drei Jahren hatte er sich den Rebellen angeschlossen, war „in den Wald gegangen“, wie es hier heißt. Ein Handy wird herumgereicht: Da liegt er, der Attentäter, mit weit aufgerissenen Augen, vom Körper nur noch der Torso und ein Arm übrig, zerfetzt von einem mit Metallkugeln gefüllten Sprengstoffgürtel. Auf einem anderen Bildschirm, er hängt in einer Schaschlik-Stube gegenüber vom Krankenhaus, verkündet derweil ein vor Selbstbewusstsein strotzender Präsident Ramsan Kadyrow, die Rebellen seien „Schaitany“, Teufel, mit denen er kurzen Prozess machen werde.
Nicht nur Polizisten, auch die politische Elite wird von den Selbstmordattentätern ins Visier genommen: Ende Juni sprengte ein Mudschaheddin die Fahrzeugkolonne des inguschetischen Präsidenten Junus-Bek Jewkurow in die Luft, Jewkurow überlebte schwer verletzt. Aus dem ursprünglichen Kampf der Tschetschenen für Unabhängigkeit, der seit 1994 rund 60 000 Menschenleben forderte, hat sich ein Bürgerkrieg fundamentalistischer Islamisten gegen die lokalen Machteliten entwickelt. Ihre Strategie erinnert zunehmend an den Terror in Afghanistan und Irak.
Dabei waren eigentlich in den letzten Jahren fast alle, die Ramsan Kadyrows Macht in Frage stellen könnten, ausgeschaltet worden: Aslan Maschadow, der ehemalige Präsident Tschetscheniens, wurde 2005 aus dem Weg geschafft. Den gefürchteten Rebellenführer Schamil Bassajew tötete 2006 der russische Geheimdienst FSB. Auch die einflussreichen Brüder Sulim und Ruslan Jamadajew, Erzfeinde des Kadyrow-Clans, sind nicht mehr am Leben: Ruslan wurde 2008 in Moskau erschossen, Sulim vor wenigen Monaten in Dubai.
Nun will Kadyrow seine letzten Gegner vernichten: Seit dem Frühjahr geht er mit äußerster Härte gegen die Islamisten unter der Führung des selbsternannten „Emirs“ Doku Umarow vor, jeden Tag schickt er seine Truppen in die bewaldeten Berglandschaften an der Grenze zu Georgien und Dagestan, wo sich die Rebellen mutmaßlich verstecken. Nur noch 50 bis 70 seien übrig, sagt Kadyrow. Der grobschlächtige Präsident liebt harte Worte. „Entweder sie gehen dorthin und töten ihre Hunde selbst, oder sie sollen sie uns überlassen“, hat er den Verwandten der Rebellen jüngst verkündet.
Die Islamisten antworten auf die Militäraktionen in den Wäldern mit Selbstmordattentaten in den Städten, und sie treffen damit den Nerv des traumatisierten Landes. Die Tschetschenen, die in den vergangenen 20 Jahren bereits ausgebombt, verschleppt und vertrieben wurden, zeigen sich schockiert von der neuen Strategie der Islamisten. „So etwas hat es hier noch nie gegeben“, sagt der Anwalt Uvays entgeistert.
Nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Kinder nach dem Spielen in den Häusern verschwunden sind, versammeln sich die männlichen Bewohner der Nowatory-Straße auf einem der Höfe dieses im Ostteil von Grosny gelegenen Stadtviertels. Die Gerüchteküche brodelt, jeder hat von neuen Terroranschlägen gehört. Was das tschetschenische Fernsehen verschweigt, wird hier per Mundpropaganda verbreitet. Auch hier auf dem Hof steht ein Handy im Zentrum der Aufmerksamkeit: Ein Dutzend junger Männer verfolgt ein Video von einem Anschlag auf einen Kleinbus. Der Anschlag galt dem Innenministerium der inguschetischen Hauptstadt Nasran, mindestens 25 Menschen kamen dabei um. Die meisten Männer auf dem Hof schütteln den Kopf, Sympathie für den Attentäter hat keiner. Aber Achtung. „Das war ein Mensch mit Idealen“, sagt ein junger Mann.
Hinter einem grünen, von Maschinengewehrsalven durchlöcherten Zaun lebt Sulpa Dakajewa. Lautstark verflucht die 58-Jährige die Mörder von Natalja Estemirowa, der Menschenrechtlerin, die am Morgen des 15. Juli von Unbekannten entführt und erschossen wurde. „Sie war die einzige, die wirklich für die Erniedrigten und die Armen gekämpft hat! Die anderen haben doch alle Angst um ihre Sessel“, sagt Dakajewa wütend. Seit dem Jahr 2000, als ihr Haus von russischen Granaten zerstört wurde, hat sie mit ihrem Mann und dem Sohn in Flüchtlingslagern und Wohnheimen gelebt. Ihr Mann hat inzwischen drei Herzinfarkte erlitten. An allem Elend, sagt sie, seien Kadyrows Beamte schuld, die sich an den Moskauer Subventionsgeldern zum Wiederaufbau bereichern – allein im Jahr 2008 floss über eine Milliarde Euro nach Tschetschenien.
Geschichten wie die von Sulpa Dakajewas kennt fast jeder in Grosny: Ihre Nachbarin erzählt, was man tun muss, um die umgerechnet etwa 8000 Euro Kompensation zu erhalten, die der russische Staat jedem Tschetschenen zahlt, dessen Haus im Krieg zerstört wurde: „30 Prozent davon müssen wir den Beamten abtreten, sonst bekommen wir das Geld nicht.“ Nurdi Nuchaschijew bringt das nicht aus dem Konzept. „Die Lösung dieser Probleme hängt von der Aktivität der Zivilgesellschaft ab“, sagt der Menschenrechtsbeauftragte Tschetscheniens, ein Mann mit melancholischen Gesichtszügen. „Wenn jemand eine Bestechung fordert, dann gibt es gesetzliche Möglichkeiten, dagegen zu protestieren“, sagt Nuchaschijew. „Wir haben ein funktionierendes Rechtssystem.“
Dann schimpft Nuchaschijew gegen die Informationskampagne, die der Westen gegen Tschetschenien und Russland führe: Als Instrument dienten von den USA finanzierte Organisationen wie „Human Rights Watch“ und die russische Gruppierung „Memorial“. Ihre Strategie bestehe darin, die Probleme in Tschetschenien aufzublähen – und andere Dinge zu verschweigen: „Im Unterschied zu Afghanistan, Irak und Jugoslawien hat man hier doch das Flüchtlingsproblem inzwischen gelöst“, sagt Nuchaschijew. Was seien schon die 27 Fälle unrechtmäßiger Festnahmen in diesem Jahr im Vergleich zu einem Rechtsbruch wie Guantanamo? Und ja, in Tschetschenien seien in diesem Jahr in sechs Fällen Häuser von Angehörigen getöteter Rebellen niedergebrannt worden. „Aber vergleichen Sie das mal mit den Methoden, die Israel gegen religiöse Extremisten einsetzt! Warum berichten diese Organisationen nicht über solche Verbrechen?“ Für Nuchaschijew ist die Antwort klar: „Weil sie Menschen gleichen Blutes sind – Juden.“
Viel lieber spricht Nuchaschijew aber über sein Lieblingsthema, über die 3000 von russischen Soldaten verschleppten Tschetschenen, deren Körper in Massengräbern vermutet werden. Nuchaschijew will die Toten finden und die Schuldigen bestrafen. „Aber es gibt den starken Wunsch bestimmter föderaler Strukturen, die Verbrechen von Soldaten gegen die Bevölkerung nicht aufzudecken“, sagt er.
In der Nacht von Sonntag auf Montag hat das Telefon Uvays aus dem Schlaf gerissen. „Amin ist gestorben“, teilte ihm ein Verwandter mit. Uvays hat sich gleich auf den Weg gemacht, noch am selben Tag wird Amin in seinem Geburtsort beerdigt, die Trauerzeremonien werden noch die ganze Woche dauern. Amins Angehörige haben der Familie des Attentäters keine Blutrache geschworen, wie es nach tschetschenischer Tradition üblich wäre. „Aber streicheln“, sagt der Vater, „wird man sie auch nicht.“
Moritz Gathmann
ENDE
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