DER UMWEG ÜBER PRAG
(n-ost) – „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...“ lautet der wohl berühmteste unvollendete Satz der Wendezeit. Die übrigen Worte Hans-Dietrich Genschers gingen im Jubelsturm unter. Etwa 4000 DDR-Flüchtlinge lagen sich an diesem Abend des 30. September 1989 in der westdeutschen Botschaft in Prag in den Armen und schrien vor Freude und Erleichterung. Einer von ihnen war der damals zwölfjährige Matthias Ebecke. „Als Genscher auf den Balkon trat, stand ich allein in der Menge im Botschaftsgarten. Mir war gar nicht klar, wer da oben sprach. Aber die Nachricht – es geht raus– war unmissverständlich.“Seine Kindheit verbringt Ebecke in Magdeburg, als sich sein Vater 1989 bei einem Verwandtenbesuch in den Westen absetzt. Die Familie soll nachkommen. „Wir hatten uns auf eine jahrelange Trennung eingestellt.“ Dann beginnt die Berichterstattung über die Botschaftsflüchtlinge in Prag. Von Februar bis Anfang August 1989 hält sich die Zahl der Zuflucht Suchenden in Maßen. Bis zu 30 DDR-Bürger befinden sich gleichzeitig auf dem Gelände des Palais Lobkowicz. Wie der damalige Botschafter in Prag, Hermann Huber, in seinen Erinnerungen schreibt, können DDR-Unterhändler die Flüchtlinge anfangs noch zur Rückreise in die DDR bewegen. Im Gegenzug wird ihnen die Bewilligung eines regulären Ausreiseantrags in Aussicht gestellt.Das wirkliche Flüchtlingsdrama beginnt Mitte August. Immer mehr Ostdeutsche wollen den visafreien Verkehr in die ČSSR zur Flucht nutzen. Hintergrund ist die Sorge, dass Honecker im Rahmen des 40. Jahrestag der DDR im Herbst die Grenzen zur Tschechoslowakei schließen könnte. Nun klettern schon täglich mehrere Dutzend Ostdeutsche über den drei bis vier Meter hohen Zaun der Botschaft. Immer seltener werden sie von den tschechoslowakischen Sicherheitskräften daran gehindert. Denn auch in Prag hat Gorbatschows Perestroika politisches Tauwetter ausgelöst. Nach Ansicht des ehemaligen Botschafters Huber verfiel die tschechoslowakische Führung zudem in eine gewisse Orientierungslosigkeit, weil aus Moskau keine klaren Anweisungen mehr kamen.Ende September geht die Zahl der Botschaftsflüchtlinge in die Tausende. Auch die Ebeckes entschließen sich, das Risiko einzugehen und in die Botschaft zu flüchten. Die Mutter träumt schon länger von einem Leben im Westen und sie will die Familie wieder vereinen. Am 29. September nimmt sie ihren Jungen und die zweijährige Tochter und steigt in den Zug nach Prag. „Ein schrecklicher Tag“, erinnert sich Matthias Ebecke. „Du gehst zur Schule und weißt: Morgen bist du weg und du darfst es niemandem erzählen – ein Abschied für immer.“Auf der Zugfahrt wird ein Mitreisender von Grenzern aus dem Abteil geführt. „Meine Mutter sah sich schon im Gefängnis und ihre Kinder im Heim.“ Doch sie haben Glück und erreichen am Morgen des 30. September Prag. Am Bahnhof bilden sich sofort Grüppchen von Ostdeutschen. „Es war klar, wo die alle hinwollten“, sagt Ebecke. Die Kinder an den Händen, schließt sich seine Mutter einem Pulk an, der geradewegs die Botschaft ansteuert. „Als wir in die Nähe kamen, wiesen uns die Polizisten mit einem Augenzwinkern den Weg“, erinnert sich Ebecke. „Auf dem Gelände war es wahnsinnig schlammig, es gab kaum noch Rasen, weil es soviel geregnet hatte. Ich wollte sofort wieder weg.“Tatsächlich soll der Aufenthalt der Familie nicht von Dauer sein. Wegen der kleinen Schwester wird den Ebeckes nach der Ankunft ein Platz im Hauptgebäude zugewiesen. „Der Raum lag ein oder zwei Zimmer neben dem Genscher-Balkon und war mit Frauen und Kindern total überfüllt“, erinnert sich Ebecke. Den Nachmittag des 30. September verbringt der Zwölfjährige damit, das Botschaftsgelände zu erkunden. „Überall standen Bundeswehrbetten im Schlamm und offene Zelte, in denen die Menschen Karten spielten und dösten, völlig abwartend und gelangweilt. Es war eine depressive Stimmung, wie nach einer Katastrophe.“ Aber als es dunkel wird, entsteht plötzlich Unruhe. „Das Gerücht ging um, jemand Wichtiges sei gekommen“, erinnert sich Ebecke.Wovon die Flüchtlinge nichts wissen: Der durch einen Herzinfarkt geschwächte Außenminister Genscher hat in den Tagen zuvor in einem Verhandlungsmarathon in New York auf eine schnelle Lösung des Flüchtlingsproblems gedrängt. Dabei gewann er am Rande der UN-Vollversammlung die Unterstützung seines sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse. Auch die USA, Großbritannien und Frankreich stellen sich in der Flüchtlingsfrage hinter Genscher. Während dieser eine Ausreise der Flüchtlinge ohne Umwege in die BRD forderte, pochte der damalige DDR-Außenminister Oskar Fischer auf eine vorübergehende Rückkehr der Ostdeutschen in die DDR, um die Souveränität seines Staates zu wahren.Doch dann lässt sich Ostberlin doch überraschend auf einen Kompromiss ein. Die Flüchtlinge sollen in Sonderzügen über DDR-Territorium in den Westen reisen. Der Ständige Vertreter der DDR überbringt Genscher diese Nachricht nach dessen Rückkehr aus New York. Bei dem Treffen am Morgen des 30. September im Kanzleramt nimmt auch der damalige Kanzleramtschef Rudolf Seiters teil, der für die deutsch-deutschen Verhandlungen in der Flüchtlingsfrage mitverantwortlich ist. Daraufhin fliegen Genscher und Seiters in Absprache mit Bundeskanzler Helmut Kohl unverzüglich nach Prag.Um kurz vor 19 Uhr betritt Genscher den Balkon des Palais Lobkowicz und spricht seinen berühmten Satz. Nach der Rede zählen die Ebeckes zu den ersten Flüchtlingen, die in den Sonderzügen über Dresden nach Hof reisen. „Ich erinnere mich“, so Ebecke, „wie die Menschen in der DDR aus ihren Fenstern und vom Balkon uns zuwinkten und die Stasi später unsere DDR-Pässe einsammelte. Den Rest habe ich leider verschlafen.“ Was die Wenigsten wissen und in den Medien kaum Beachtung fand: Nach dem historischen Balkonauftritt Genschers folgen weitere Flüchtlingswellen. Schon wenige Tage später, am 3. Oktober, nisten sich erneut über 5000 Menschen auf dem Gelände der Prager Botschaft ein und 2000 weitere auf dem Vorplatz. Am 3. November gestattet die Ostberliner Führung ihren Bürgern die direkte Ausreise aus der Tschechoslowakei in den Westen, nachdem die Prager Botschaft erneut mit 5000 Flüchtlingen übervölkert wurde. „Es gab also für DDR-Bürger keinen Eisernen Vorhang und keine Mauer mehr. Es gab nur noch den Umweg über Prag“, so der damalige Botschafter Huber. Damit hatten die Prager Botschaftsflüchtlinge ihren Teil zur friedlichen Revolution 1989 beigetragen. Eine weitere Bresche in den Eisernen Vorhang war geschlagen.Nicholas Brautlecht
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